Thérèse Gellé, Geliebte in eigener Sache
Ein weiterer Beitrag der mittlerweile
offensichtlich im Entstehen begriffenen Reihe „Frauen, die
irgendwie mit der Französischen Revolution zu tun haben“! Diesmal
handelt es sich um eine Frau, die weniger selbst eine Rolle in der
Revolution gespielt hat, sondern um die Freundin eines Revolutionärs.
Lest nun also die Geschichte der Thérèse Gellé, die als
Jugendfreundin und Geliebte Antoine Saint-Justs gilt.
Thérèses Herkunft: Blérancourt
Louise-Thérèse-Sigrade (oder Sygrade)
wurde am 13. Oktober 1766 in Blérancourt geboren. Ihre Mutter war
Marguerite-Sophie-Geneviève Sterlain oder Sterlin oder Strelain oder
Strelin (man hatte es damals nicht so mit den Nachnamen), ihr Vater
Antoine Gellé. Thérèse wurde unehelich geboren, ihr Vater
erkannte sie aber als sein Kind an. Ob und mit wem er zu dieser Zeit
anderweitig verheiratet war, weiß man nicht (seine letzte bekannte
Frau, die zweite, starb schon 1761), ihre Eltern heirateten
jedenfalls erst 1778. Ein Wort über Blérancourt: Es handelt sich um
ein Dorf in der Picardie in Nordfrankreich, ziemlich genau in der
Mitte zwischen Reims im Osten und Amiens im Westen. Bis Ende des 18.
Jahrhunderts befand sich dort die Residenz der Herzöge von Gesvres,
und dies drückte dem Weiler seinen Stempel auf: Blérancourt sei
eine Art von Versailles, schreibt Bernard Viénot (S. 169), ein an
sich unbedeutendes Fleckchen Erde, dass durch die Präsenz und den
Willen des Herzogs Marktstadt wurde. Die sozioökonomische Verteilung
des Ortes liest sich entsprechend: Von den im Jahre IV (1796)
registrierten 624 Einwohner_innen1
waren 166 im Bereich des Textilgewerbes beschäftigt (Spinner_innen,
Weber_innen, Schneider_innen usw, aber auch Lederverarbeiter_innen
etc.), gefolgt von 98 Beschäftigten in der Gastronomie und im Lebensmittelhandwerk, 86 Handarbeiter_innen, 85 Beschäftigten im
hortikulturellen Sektor, hierunter besonders viele Gärtner_innen
usw. Insgesamt konnten sich nur 11 Haushalte eine_n Bedienstete_n
oder mehr halten (daher nur 24 Domestiken),2
nur 35 zahlten Steuern von über 10 Livres (Viénot, 173). Der Ort
wird von den Notaren und Statthaltern des Herzogs beherrscht,
hierunter insbesondere Thérères Vater, Antoine Gellé, königlicher
Notar, Gerichtsherr, Vogt und reicher Händler; andere mächtige
Familien sind die Thorins und die Decaisnes, ebenfalls Notare. Die
Saint-Justs wohnen erst seit 1776 im Ort, sind in der dortigen
Nomenklatur also nicht sehr verankert, obwohl sie zu den
wohlhabenderen Familien gehören. Im Blérancourter Umland:
Kleinbauern, die in großer Armut leben. Zusammengefasst lässt sich
die soziale Struktur des Ortes als recht typisches Beispiel feudaler
Verhältnisse begreifen, innerhalb derer krasse ökonomische
Gegensätze existieren und der völlig durch familiäre
Verstrickungen der Machthabenden untereinander beherrscht wird.
Nun aber zurück zu Thérèse. Über
ihre Kindheit und Jugend weiß ich soweit gar nichts, nicht, welche
Bildung sie erhielt (vermutlich keine sehr gute, nach dem Usus der
Epoche, der auch für Mädchen aus gutem Hause gerade das
notwendigste vorsah), noch, wie sie aussah und auch nicht, welchen
Charakter sie besaß. Man liest manchmal, sie sei rothaarig oder
blond gewesen, manchmal, sie habe Sommersprossen gehabt. Jörg Monar
nimmt anhand einer Passage aus „Organt“, in welcher dieser sein
Idealbild einer Geliebten beschreibt, an, „daß die junge Thérèse
ein zwar sinnliches, aber nicht ausgefallen hübsches Geschöpf mit
eher bescheidenen Ansprüchen war“ (Monar, 62). Wie er zu dem
Schluss kommt – keine Ahnung. Bleiben wir lieber dabei, dass wir im
Grunde nichts wissen.
Thérèse und Antoine I: Eine Zwangsheirat
Weder Thérèse noch Antoine |
Leider ist auch nichts darüber
bekannt, wann und wie Thérèse und Antoine Saint-Just einander
kennen lernten. Auch hier gibt es diverse Spekulationen bezüglich
der „Verführung“ Thérèses durch Antoine oder des letzteren
Wunsch, sich der Mitgift des Mädchens durch Heirat zu versichern. Es
besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die beiden etwa ab 1785
ein Liebespaar waren. Im Dezember desselben Jahres waren sie
gemeinsam Patin und Pate des Sohnes eine Mitbürgers namens Lély,
und offenbar wurden sie als künftige Verlobte gehandelt. Inwiefern
dies aber tatsächlich seitens der Familien unterstützt wurde,
bleibt dahingestellt. Wahrscheinlich, dass eine Freundschaft der
beiden seitens der Familien geduldet wurde. Wahrscheinlich auch, dass
sowohl Antoine als auch Thérèse mittelfristig an eine Ehe dachten
(angesichts des jungen Alters Antoines – er war erst 18 Jahre alt –
und dessen Status als Schüler dürfte eine Hochzeit allzubald nicht
zu erwarten gewesen sein). Offensichtlich, dass die Einwohner_innen
Blérancourts genauso dachten: im Ort kursierten Erzählungen über
romantische Treffen in der nahen Burgruine von Coucy. Der Vater Gellé
allerdings kann kaum daran interessiert gewesen sein, seine Tochter
an einen Zugezogenen mit noch sehr wenig rosigen beruflichen
Aussichten und nur mittelmäßigem Vermögen zu verheiraten.
Dahingegen musste eine Verbindung zur Notarsfamilie Thorin durchaus
reizvoll erscheinen. Ich sagte bereits weiter oben, dass die Thorins neben den Gellés und den Decaisnes zu den einflussreichen Patriziern
Blérancourts gehörten – zu diesem Zeitpunkt waren die Thorins
bereits mit den Decaisnes verschwägert (jener Decaisne heiratete
nach dem Tod seiner Frau übrigens eine Schwester Saint-Justs). Ein
Schulterschluss aller drei Familien muss den Beteiligten sehr
willkommen gewesen sein. Antoine wirkte in diesem Setting also eher
als Störenfried, den es freundlich aber bestimmt abzuwimmeln galt.
Was läge näher, als Thérèse möglichst schnell und
vergleichsweise formlos (jedoch mit allem Pomp) zu verheiraten? –
So wurde am 25. Juli 1786, kurz vor Saint-Justs Rückkehr aus der
Schule, mitten in der Woche und nach nur einem Aufgebot,3
die Ehe zwischen Thérèse Gellé und dem ein Jahr älteren Emmanuel
Thorin geschlossen. Zweifelsohne war Thérèse selber mit der Hochzeit nicht
einverstanden, denn die Ehe erwies sich als äußerst unglücklich
und überdies kinderlos. Über die Auseinandersetzungen zwischen ihr
und ihrem Vater im Vorfeld der Hochzeit kann nur spekuliert werden.
Möglicherweise war es aber auch in dieser Hinsicht ratsam, Thérèse
möglichst schnell zu verheiraten, um gefährlichen Widerstand zu
vermeiden.
Saint-Just brannte, wie bekannt, einige
Zeit nach seiner Rückkehr nach Blérancourt und der erzwungenen
Trennung von Thérèse nach Paris durch. In seiner Versnovelle
„Organt“ gibt es eine Passage, in der Antoine mit teilweise
gequälter Leidenschaft die Erfahrung der „geschändeten Liebe“
verarbeitet:
„So auch die Liebe, die rührendste
Liebe, / unter den falschen Gütern, /mit denen menschliche Schwäche
/ den Weg zum Elend sät; / Sogar die Liebe endet im Leid. / […] /
Ach! Das Glück ist nur Einbildung, / gefällige Frucht der
Verderbnis! / Doch fühle ich wohl, dass darin irren süß ist: / Man
brennt, liebt, und glaubt sich geliebt; / stöhnt auf, doch das Herz
ist bezaubert. / Im Angesicht der Liebe stumpft die Weisheit ab, /die
Vernunft schreit, doch das Herz widersteht.“
Nun, die beiden werden sich
zweifelsohne nach Antoines Rückkehr nach Blérancourt wiedergesehen
haben. Haben sie ihre Beziehung wieder aufgenommen? Im19. Jahrhundert
galt das als ausgemacht, und verschiedene Biographen äußerten sich
in der Richtung. Ernest Hamel, entfernt verwandt mit den Saint-Just,
widerspricht lebhaft: eine Verleumdung sei dies, in die Welt gesetzt
von irgendwelchen verirrten Seelen, die blind vor Hass das Andenken seines Onkel schänden wollen (Hamel, 65) Und wenn überhaupt: „Wenn schon,
später, diese Leidenschaft hervorbrach, wenn schon die jungen Leute,
als sie sich einige Monate nach der grausamen Enttäuschung wieder
trafen, der Macht ihrer Zärtlichkeit nicht widerstehen konnten und
die Pflicht in einem ehebrecherischen Kuss vergessen haben – wer
trägt wohl die Schuld?“ (ebd.) Madeleine-Anna Charmelot,
umtriebige Biographin von Saint-Just, glaubt jedenfalls sicher, dass
Antoine und Thérèse nach 1790 abermals ein Paar waren – und sogar
ein gemeinsames Kind gehabt hätten, von dem sie allerdings nicht
weiß, was aus ihm geworden ist. Über dieses Kind habe ich nirgendwo
sonst etwas finden können; sollte es existiert habe, ist es
vielleicht früh verstorben. Allerdings frage ich mich, warum es
nicht unter den Kindern Emmanuel Thorins aufgeführt wird, der als
Ehemann ja immerhin vor Antoine als offizieller Vater in Frage käme.
Und wenn dieser Vater eines von ihm anerkannten Kindes gewesen wäre,
hätten sich die Thermidorianer nicht wohl sehr dafür interessiert?
– Sie ist es auch, die zu Protokoll gibt, Louis-François
Lessassière, Thérèses Taufpate, habe 1790 „auf offener Straße
den ,Verführer‘
seiner Patentochter geohrfeigt.“ (Charmelot 1959, 72)4
Thérèse und Antoine II: 1793
Die Frage, ob die beiden nach 1789 ein
Verhältnis hatten, lässt sich vielleicht besser ex post
diskutieren: Ende Juli 1793 verließ Thérèse ihren Mann und reiste
nach Paris. Sie wählte ihr Ziel zweifelsohne danach aus, dass ihr
Jugendfreund dort weilte; welchen anderen Grund sollte die junge Frau
sonst haben, ausgerechnet in die turbulente Großstadt zu fahren? Von
diesen Vorgängen wusste Antoine offenbar nichts, denn es war sein
Jugendfreund, Victor Thuillier, der ihn darauf aufmerksam machte.
„Ich habe Neuigkeiten über die Frau Thorin“, schrieb er an
seinen Freund, „und man glaubt noch immer, dass du sie entführt
habest.“ – „Wo zum Teufel hast du denn das geträumt, was du
mir da von der Bürgerin Thorin erzählst? Ich bitte dich, all jenen,
mit denen du darüber redest, zu versichern, dass ich damit nichts zu
tun habe“, kam die Antwort von Saint-Just. Ernest Hamel sowie Jörg
Monar nehmen diesen Briefwechsel als Beweis dafür, dass von einer
Beziehung zwischen Thérèse und Antoine nach Thérèses Hochzeit
keine Rede sein kann; es ist dennoch bemerkenswert, dass die beiden
im kollektiven Gedächtnis Blérancourts noch so eng miteinander
verbunden waren, dass die Abreise Thérèses sofort mit Saint-Just in Zusammenhang gebracht wurde. Zu diesem
Zeitpunkt war die Beziehung zwischen den beiden bereits seit sieben
Jahren beendet – außerordentlich langes Gedächtnis? Oder
vielleicht doch mehr? - Übrigens diskutiert Bernard Vinot die Möglichkeit einer alternativen Datierung der Briefe, deren Plausibilität vor dem Hintergrund verschiedener Umstände gegeben sei. Durch diese andere Datierung wäre Saint Justs Replik nicht nur keine Antwort auf Thuilliers Mitteilung Thérèse betreffend, sondern sogar zeitlich früher anzusetzen als Thuilliers Brief (die Briefe stünden mithin in keinem kausalen Verhältnis zueinander). Das wiederum ließe zumindest die Möglichkeit zu, dass Antoine etwas von Thérèses Trennung gewusst haben könnte - ein Beleg ist dies jedoch nicht.
Einen weiteren Beleg gegen eine
außereheliche Beziehung sieht Monar zudem in dem Umstand, dass in
der Scheidungsurkunde Thérèses und Emmanuel Thorins kein Ehebruch
zu den Akten gegeben wurde: „Wäre Thorin von einer Affäre
zwischen Thérèse und seinem früheren Widersacher Saint-Just
überzeugt gewesen, so hätte er dies sicher nicht unerwähnt
gelassen, um sich für den angetanen Schimpf zu rächen.“ (538f.)
Inwiefern es für Saint-Just schimpflich gewesen wäre, wenn Thorin
zu Protokoll gegeben hätte, dass seine Frau ihn mit Saint-Just betrogen
hätte, während davon im Prinzip schon der ganze Ort überzeugt ist,
leuchtet mir nicht so ganz ein. Darüber hinaus müsste es für den
gehörnten Ehemann, will man ihm tatsächlich solch primitive
Rachegedanken unterstellen, gewiss schimpflicher gewesen sein, sich
als Hahnrei zu bekennen. Eines aber gibt Monar Recht: die Ehe wurde
wegen „Unvereinbarkeit der Charaktere“ geschieden, nicht wegen
Ehebruchs.
Weiterhin ist unbekannt, ob Thérèse
während ihres Aufenthalts in Paris Antoine getroffen hat. Allein die
zeitliche Komponente gibt Schwierigkeiten auf: Thérèse war
keinesfalls durchgehend in Paris; Anfang Oktober war sie zugegen, als
in Blérancourt ihre Scheidung eingereicht wurde. Ob sie danach
erneut nach Paris aufbrach, ist umstritten. Antoine selber befand
sich in jenem Herbst kaum in Paris, sondern en mission im Elsass mit
seinem Freund Philippe Le Bas. Dessen Frau Elisabeth Duplay erinnert
sich darüber hinaus, dass sie sich relativ am Beginn ihrer
Schwangerschaft (der auf den September 1793 zu datieren ist) befand,
als ihr Mann erneut en mission gesandt werden sollte und sich
entschloss, sowohl sie als auch seine jüngere Schwester Henriette
mitzunehmen, die in ihrer Familie mehr oder weniger als Verlobte
Saint-Justs galt. Das bedeutet nun aber, dass Saint-Just
sich gegen Ende 1793 nicht nur nicht in Paris befand, sondern dass er
offenbar auch als „Single“ angesehen wurde – wie ernst sein
„Verlöbnis“ mit Henriette genommen werden kann, bzw. ob es sich
nicht nur um eine vorübergehende Laune gehandelt hatte, mag
dahingestellt bleiben. Charmelot geht selbstverständlich davon aus,
dass die Beziehung zwischen Antoine und Thérèse in Paris
weiterbestanden hat, dass Thérèses Trennung und Abreise aus
Blérancourt auf Initiative oder zumindest deutliche Ermunterung
durch Antoine erfolgt ist und dass sie bis zu seinem Tod in Paris
gelebt hätte. Nun entgegnet Monar, dass für einen längeren
Aufenthalt Thérèses in Paris jeglicher Anhaltspunkt fehle, und auch
die Beziehung zu Henriette Le Bas wäre dann mit einem großen
Fragezeichen versehen. Andererseits bietet Charmelots These
Anhaltspunkte dafür, warum das Verlöbnis zwischen Henriette und
Antoine wirklich gelöst wurde (denn ehrlich: weil sie Schupftabak
genommen hat??), und lässt den Umzug Antoines aus einer Pension in
eine relativ große, sehr luxuriöse Wohnung (mit fließendem
Wasser!), in der er sich tatsächlich aufgrund seiner
Commissionairestätigkeit kaum aufhielt, plausibler werden. All das
sind jedoch keine hinreichenden Indizien.
Die Dreieckssituation, in der sich
Antoine im Winter 1793/94 möglicherweise befunden hat, die
ungeklärten Verhältnisse sowohl zu Thérèse als auch Henriette, findet eine interessante Parallele in einem Text, den
Antoine in dieser Zeit verfasst haben muss, und der sich in den
Manuskripten zu den Institutions républicains befindet. Dort wird
eine Episode beschrieben, von der natürlich unbekannt ist, ob sie
fiktiv oder autobiographisch ist, die aber meines Erachtens sehr
starke autobiographische Züge trägt:
Saint-Just, Gemälde von David |
„sie
kam sehr langsamen Schrittes, sie trat ein umarmte Ihn drückte ihm
Die Hand, er warf ihr sanft ihre lange Abwesenheit und ihre Stille
vor sie antwortete nichts er führte sie bei der Hand und in seiner
Wonung angekommen, bot er ihr die zärtlichsten Liebkosungen dar, sie
lächelte und tat kein Wortt. Sie legten sich beide auf einem Bette
nieder, sie kostete Kein Vergnügen aber nahm viel Anteil an dem
ihres Freundes sie ließ ihre Hände über seinen körper streifen,
sie kreuzte ihre beine über den seinen er fragte sie ob sie ihn
nicht mehr liebe, sie küsste ihn und behielt eine tiefe Stille bei,
so lass mich deinen Mund öffnen függte er mit einem kuss hinzu, sie
lächelte, dann warf er ihr vor, dass sie ihm gar nicht geschrieben
habe Ich musste kommen antwortete sie – früher als du kamst
brachtest du mir mehrere Briefe mit, sie antwortete nicht. Ich werde
dich meiden sagt er ihr Sie sagt kein Wort – warum bist du so
traurig, – weil du mir gesagt hast, du würdest mich meiden – du
warst schon vorher traurig, sie sagte nichts, aber függte er hinzu
wo werden wir enden, wir Müssen uns trennen du glaubst also gar
nicht an die Zukunft […] – [Er:] Du wirst gleichgültig, aber
woher solche Traurigkeit. – du willst, dass ich dir folge. Dazu
könnte ich mich niemals entschließen. […] [Er:] in dem Fall
lass uns einander Auf der stelle vergessen komm schon fasse Mut wenn
wir uns schon eines tages trennen müssen sparen wir uns mehr
Bedauern lebe wohl Ich werde eine andere Frau haben Ich bringe dir
meine kleinen Kinder du wirst sie wie die deinen lieben – nein,
rief sie aus Ich will nicht und sie brach in Tränen aus, während
sie ihn mehrfach drückte – Lass uns unsere Schwäche hinter uns
lassen, fuhr er fort und er sagte er erneut, dass er eine Frau nehmen
würde, die ihr ähnele und dass er ihr seine kleinen Kinnder bringen
würde. Ich liebe dich – nun, das müssen wir vergessen uns trennen
und einander nicht wiedersehen: sie weint. Er zögerte nicht, ihr zu
zeigen, dass er sie noch immer genauso liebte er ließ sie
versprechen, am übernächsten Tag wieder zu kommen, sie nahm das
Geheimnis ihrer Traurigkeit mit sich […] Er sagte sich, entweder
misstraut sie mir, oder sie ist Eifersüchtig, oder sie hat einen
Grund, den sie mir verschweigt.“ (Meine Übersetzung, inklusive
Saint-Justs berühmt-berüchtigter Orthographie.)
Gleichgültig
also, ob Antoine Thérèse tatsächlich wiedergesehen hat (und wie
seine Absichten Henriette gegenüber gewesen sein mögen), die
Thematik der unerfüllten, melancholischen Liebe beschäftigte
Antoine noch Jahre nach dem Aufschrei des brennenden Liebenden in
Organt.
Thérèses Scheidung
Im Juli 1794, genauer im Messidor l'an II, wurde
ihre Scheidung von Thorin rechtskräftig. Die Begründung lautete,
wie oben bereits erwähnt, auf „Unvereinbarkeit der Charaktere“.
Sowohl die Scheidung an sich als auch dieser doch sehr weiche Grund
(an dieser Stelle ein dreifaches Vivat! auf das liberale
Scheidungsrecht der 1. Französischen Republik) werden im familiären
und sozialen Umfeld Thérèses aus mehreren Gründen auf
Unverständnis gestoßen sein: Zunächst war es weder auf dem Land
noch in den gutbürgerlichen Kreisen üblich, sich scheiden zu lassen. Selbst
nach Einführung der Scheidung waren es zunächst noch vor allem
Menschen (darunter viele Frauen) aus den städtischen,
kleinbürgerlichen oder Arbeiter_innenschichten, die eine Scheidung
anstreben. In gehobeneren Kreisen galt eine Scheidung nach wie vor
als unschicklich. Dazu kommt, dass im konkreten Fall das soziale
Umfeld Thérèses äußerst konservativ eingestellt war. Die Gellés
wie die Thorins waren trotz ihres fortgesetzten politischen
Engagements antirevolutionäre Royalisten geblieben, tatsächlich
verbrachten beide Familien (mit Ausnahme Thérèses, die sich bereits
von ihnen getrennt hatte) den Herbst/Winter des Jahres II im
Gefängnis (ausgerechnet auf Betreiben ihres Erzfeindes Saint-Just
wurden sie schließlich freigelassen). Es liegt nahe, dass die
Aufhebung eines „vor Gott geschlossenen“ Bundes, noch dazu unter
solch „fadenscheinigen“ Gründen wie charakterlicher
Inkompatibilität – man erinnere sich, dass Ehen, so auch diese,
damals vor allem aus zweckrationalen Gründen geschlossen wurden –
als Affront gewertet wurde; zumal auf diese Weise vor allem ein
familiäres Bündnis aufgelöst wurde, welches geholfen hatte, die
Vorherrschaft der beteiligten Familien zu begründen. In dieser Hinsicht kann die Scheidung durchaus als Politikum gewertet werden: Thérèse
verrät ihre soziale Klasse, indem sie sich unter den Schutz
derjenigen Schicht stellt, die durch die Revolution an die Macht
gekommen sind, und die als Jakobiner und Kampfgenossen Saint-Justs
den politischen Feind darstellen.
Nach
ihrer Scheidung lebte Thérèse erneut im Haus ihres Vaters. Ihr
Ex-Ehemann verheiratete sich bald darauf erneut und konnte in der
thermidorianischen Reaktion seine politische Karriere wieder
aufnehmen. In der napoleonischen Ära wurde er gar Bürgermeister von
Blérancourt. Er starb 1813. Antoine Gellé verstarb 1800. Er hinterließ außer Thérèse noch eine Tochter aus einer früheren Ehe, die ebenfalls Louise hieß und verheiratet war. (Ich nehme an, sie lebte nicht mehr in Blérancourt, denn Charmelots Aufstellung der Einwohner_innen weist neben Antoine Gellé und Thérèse nur noch eine Schwester Gellés als direkte Verwandte auf). Nach dem Tod des Vaters prozessierten Halbschwester Louise und deren Mann kontinuierlich mit Thérèse um ihr Erbe. Dies war zu der Zeit zwar nicht ungewöhnlich, versetzte Thérèse aber in eine schwierige finanzielle Lage, sodass sie zeitweilig ihren Schmuck
versetzen musste, um über die Runden zu kommen.
So
umstritten ihre Scheidung im konservativen Kreis ihrer Familie
gewesen sein mag, Thérèse war danach nicht vollständig im Ort
isoliert. Sie besaß einige Freundinnen im Ort, worunter Verwandte
der Familie Bigot zu nennen sind, deren Männer sich als
Nationalgardisten hervorgetan hatten und zu denen auch Saint-Just in
gutem Verhältnis gestanden hatte. Insbesondere stand sie im guten
Verhältnis zu einer Familie Dutailly, für deren 1800 geborene
Tochter sie Patin stand, und die fortan ihr liebstes Patenkind wurde.
Zur Familie Dutailly ließe sich noch anmerken, dass sie zu einem
Kreis innerhalb des Ortes gehörte, der insgesamt als recht
aufgeklärt und offen für Veränderungen galt. Er setzte sich
zusammen aus weniger bis gut begüterten Handwerkern und Händlern,
darunter auch der Schwiegerfamilie des oben genannten Freundes von
Saint-Just, Victor Thuillier.
Der
Patriarch dieser Familie, Augustin Dutailly, war es dann auch, der,
zusammen mit seinem Sohn, einem Abbé, zugegen war, als Thérèse am
16. Januar 1806 verstarb. Über die Ursache dieses frühen Todes ist
nichts bekannt, Charmelot schlägt allerdings vor, nicht zu
übersehen, dass in diesem eher sumpfigen Gebiet die Malaria nicht
selten vorkam und die Einwohner_innen vorzeitig erschöpft haben
könnte.
Ich
habe eingangs diesen biographischen Abriss angekündigt als einen,
der selber nicht aktiv in der Revolution geworden ist. Ich möchte
damit dennoch nicht verstanden wissen, dass es sich etwa um ein
passives Leben handele oder dass Thérèse Gellé eigentlich nur im
Hinblick auf Saint-Just erwähnenswert wäre. Natürlich ist dies der
Grund, warum man sich überhaupt mit ihr beschäftigt; dennoch bietet
ihr Lebenslauf die Möglichkeit, eine meist versteckte Facette der
Geschichte vor und während der Französischen Revolution zu
beleuchten: es ist eine Geschichte darüber, welche neuen Wege Frauen
offenstanden. Am Beispiel Thérèses zeigt sich die familiäre
Emanzipation, die fernab der Dekrete der Nationalversammlung
stattgefunden hat. Eine junge Frau, die vor der Revolution in die Ehe
mit einem ungeliebten Mann gezwungen wurde, der es verwehrt wurde,
denjenigen zu heiraten, den sie eigentlich liebt, macht von ihrer neu
erworbenen Möglichkeit Gebrauch, ihre Ehe aufzulösen. Ihr genügt
dafür der einzige Grund, dass sie selber diese Ehe nicht will, so
sieht es das Scheidungsrecht vor. Die Tochter, die vor der Revolution
dem Vater als Instrument zur sozialen Karriere diente, wird durch die
Revolution zur mündigen Person, mit Rechten ausgestattet und
willens, von diesen Gebrauch zu machen. La révolution est en détail.
Quellen:
Jörg Monar (1993): Saint-Just. Sohn, Denker und Protagonist der Revolution. Bonn.
Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just. Les habitants de Blérancourt au début de l'an IV“, in: Annales historiques de la Révolution française, 31 (1959); 61-75.
Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 38 (1966); 61-83.
Bernard Vinot: „La révolution au village, avec Saint-Just, d’après le registre des délibérations communales de Blérancourt“, in: Annales historiques de la Révolution française, 335 (2004); 97-110.
Bernard Vinot: „Les origines familiales de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 54 (1982); 163-180.
Bernard Vinot (1985): Saint Just. Paris.
Ernest Hamel (1859): Histoire de Saint-Just, député à la Convention Nationale. Paris.
Serena Torjussen: „« Arlequin Diogène », comédie en un acte de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 237 (1979); 475-485.
Jean-Philippe Domecq (2011) Robespierre, derniers temps. Paris.
Fußnoten:
Jörg Monar (1993): Saint-Just. Sohn, Denker und Protagonist der Revolution. Bonn.
Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just. Les habitants de Blérancourt au début de l'an IV“, in: Annales historiques de la Révolution française, 31 (1959); 61-75.
Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 38 (1966); 61-83.
Bernard Vinot: „La révolution au village, avec Saint-Just, d’après le registre des délibérations communales de Blérancourt“, in: Annales historiques de la Révolution française, 335 (2004); 97-110.
Bernard Vinot: „Les origines familiales de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 54 (1982); 163-180.
Bernard Vinot (1985): Saint Just. Paris.
Ernest Hamel (1859): Histoire de Saint-Just, député à la Convention Nationale. Paris.
Serena Torjussen: „« Arlequin Diogène », comédie en un acte de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 237 (1979); 475-485.
Jean-Philippe Domecq (2011) Robespierre, derniers temps. Paris.
Fußnoten:
1Nicht
mitgezählt wurden Kinder unter 12 Jahren; Die Verteilung nach
Geschlecht legt eine gewisse Abwanderungsbewegung nahe: auf 97
Männer zwischen 18 und 40 Jahren kommen ganze 178 Frauen gleichen
Alters: Das würde auch erklären, warum noch für 1793 die
Einwohner_innenzahl mit 1024 angegeben wurde.
2Die
Zahlen stammen aus der Tabelle in Charmelot 1959, S. 65f.
3Üblich
waren mehrere Aufgebote. Die ungewöhnliche Eile dieses Prozesses
lässt sich vielleicht ermessen, wenn man ihn mit einer ganz anderen
Eheschließung vergleicht: Auch die Eltern Robespierres hatten nur
ein Aufgebot bestellt: die übrigen wurden ihnen angesichts der
delikaten und Eile gebietenden Umstände der Hochzeit erlassen...
4Ironischerweise
heiratete ein Sohn dieses Herrn später Saint-Justs jüngste
Schwester.
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