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Dienstag, 10. Juli 2012


Thérèse Gellé, Geliebte in eigener Sache


Ein weiterer Beitrag der mittlerweile offensichtlich im Entstehen begriffenen Reihe „Frauen, die irgendwie mit der Französischen Revolution zu tun haben“! Diesmal handelt es sich um eine Frau, die weniger selbst eine Rolle in der Revolution gespielt hat, sondern um die Freundin eines Revolutionärs. Lest nun also die Geschichte der Thérèse Gellé, die als Jugendfreundin und Geliebte Antoine Saint-Justs gilt.



Thérèses Herkunft: Blérancourt

Louise-Thérèse-Sigrade (oder Sygrade) wurde am 13. Oktober 1766 in Blérancourt geboren. Ihre Mutter war Marguerite-Sophie-Geneviève Sterlain oder Sterlin oder Strelain oder Strelin (man hatte es damals nicht so mit den Nachnamen), ihr Vater Antoine Gellé. Thérèse wurde unehelich geboren, ihr Vater erkannte sie aber als sein Kind an. Ob und mit wem er zu dieser Zeit anderweitig verheiratet war, weiß man nicht (seine letzte bekannte Frau, die zweite, starb schon 1761), ihre Eltern heirateten jedenfalls erst 1778. Ein Wort über Blérancourt: Es handelt sich um ein Dorf in der Picardie in Nordfrankreich, ziemlich genau in der Mitte zwischen Reims im Osten und Amiens im Westen. Bis Ende des 18. Jahrhunderts befand sich dort die Residenz der Herzöge von Gesvres, und dies drückte dem Weiler seinen Stempel auf: Blérancourt sei eine Art von Versailles, schreibt Bernard Viénot (S. 169), ein an sich unbedeutendes Fleckchen Erde, dass durch die Präsenz und den Willen des Herzogs Marktstadt wurde. Die sozioökonomische Verteilung des Ortes liest sich entsprechend: Von den im Jahre IV (1796) registrierten 624 Einwohner_innen1 waren 166 im Bereich des Textilgewerbes beschäftigt (Spinner_innen, Weber_innen, Schneider_innen usw, aber auch Lederverarbeiter_innen etc.), gefolgt von 98 Beschäftigten in der Gastronomie und im Lebensmittelhandwerk, 86 Handarbeiter_innen, 85 Beschäftigten im hortikulturellen Sektor, hierunter besonders viele Gärtner_innen usw. Insgesamt konnten sich nur 11 Haushalte eine_n Bedienstete_n oder mehr halten (daher nur 24 Domestiken),2 nur 35 zahlten Steuern von über 10 Livres (Viénot, 173). Der Ort wird von den Notaren und Statthaltern des Herzogs beherrscht, hierunter insbesondere Thérères Vater, Antoine Gellé, königlicher Notar, Gerichtsherr, Vogt und reicher Händler; andere mächtige Familien sind die Thorins und die Decaisnes, ebenfalls Notare. Die Saint-Justs wohnen erst seit 1776 im Ort, sind in der dortigen Nomenklatur also nicht sehr verankert, obwohl sie zu den wohlhabenderen Familien gehören. Im Blérancourter Umland: Kleinbauern, die in großer Armut leben. Zusammengefasst lässt sich die soziale Struktur des Ortes als recht typisches Beispiel feudaler Verhältnisse begreifen, innerhalb derer krasse ökonomische Gegensätze existieren und der völlig durch familiäre Verstrickungen der Machthabenden untereinander beherrscht wird.

Nun aber zurück zu Thérèse. Über ihre Kindheit und Jugend weiß ich soweit gar nichts, nicht, welche Bildung sie erhielt (vermutlich keine sehr gute, nach dem Usus der Epoche, der auch für Mädchen aus gutem Hause gerade das notwendigste vorsah), noch, wie sie aussah und auch nicht, welchen Charakter sie besaß. Man liest manchmal, sie sei rothaarig oder blond gewesen, manchmal, sie habe Sommersprossen gehabt. Jörg Monar nimmt anhand einer Passage aus „Organt“, in welcher dieser sein Idealbild einer Geliebten beschreibt, an, „daß die junge Thérèse ein zwar sinnliches, aber nicht ausgefallen hübsches Geschöpf mit eher bescheidenen Ansprüchen war“ (Monar, 62). Wie er zu dem Schluss kommt – keine Ahnung. Bleiben wir lieber dabei, dass wir im Grunde nichts wissen.

Thérèse und Antoine I: Eine Zwangsheirat

Weder Thérèse noch Antoine
Leider ist auch nichts darüber bekannt, wann und wie Thérèse und Antoine Saint-Just einander kennen lernten. Auch hier gibt es diverse Spekulationen bezüglich der „Verführung“ Thérèses durch Antoine oder des letzteren Wunsch, sich der Mitgift des Mädchens durch Heirat zu versichern. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die beiden etwa ab 1785 ein Liebespaar waren. Im Dezember desselben Jahres waren sie gemeinsam Patin und Pate des Sohnes eine Mitbürgers namens Lély, und offenbar wurden sie als künftige Verlobte gehandelt. Inwiefern dies aber tatsächlich seitens der Familien unterstützt wurde, bleibt dahingestellt. Wahrscheinlich, dass eine Freundschaft der beiden seitens der Familien geduldet wurde. Wahrscheinlich auch, dass sowohl Antoine als auch Thérèse mittelfristig an eine Ehe dachten (angesichts des jungen Alters Antoines – er war erst 18 Jahre alt – und dessen Status als Schüler dürfte eine Hochzeit allzubald nicht zu erwarten gewesen sein). Offensichtlich, dass die Einwohner_innen Blérancourts genauso dachten: im Ort kursierten Erzählungen über romantische Treffen in der nahen Burgruine von Coucy. Der Vater Gellé allerdings kann kaum daran interessiert gewesen sein, seine Tochter an einen Zugezogenen mit noch sehr wenig rosigen beruflichen Aussichten und nur mittelmäßigem Vermögen zu verheiraten. Dahingegen musste eine Verbindung zur Notarsfamilie Thorin durchaus reizvoll erscheinen. Ich sagte bereits weiter oben, dass die Thorins neben den Gellés und den Decaisnes zu den einflussreichen Patriziern Blérancourts gehörten – zu diesem Zeitpunkt waren die Thorins bereits mit den Decaisnes verschwägert (jener Decaisne heiratete nach dem Tod seiner Frau übrigens eine Schwester Saint-Justs). Ein Schulterschluss aller drei Familien muss den Beteiligten sehr willkommen gewesen sein. Antoine wirkte in diesem Setting also eher als Störenfried, den es freundlich aber bestimmt abzuwimmeln galt. Was läge näher, als Thérèse möglichst schnell und vergleichsweise formlos (jedoch mit allem Pomp) zu verheiraten? – So wurde am 25. Juli 1786, kurz vor Saint-Justs Rückkehr aus der Schule, mitten in der Woche und nach nur einem Aufgebot,3 die Ehe zwischen Thérèse Gellé und dem ein Jahr älteren Emmanuel Thorin geschlossen. Zweifelsohne war Thérèse selber mit der Hochzeit nicht einverstanden, denn die Ehe erwies sich als äußerst unglücklich und überdies kinderlos. Über die Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Vater im Vorfeld der Hochzeit kann nur spekuliert werden. Möglicherweise war es aber auch in dieser Hinsicht ratsam, Thérèse möglichst schnell zu verheiraten, um gefährlichen Widerstand zu vermeiden.
Saint-Just brannte, wie bekannt, einige Zeit nach seiner Rückkehr nach Blérancourt und der erzwungenen Trennung von Thérèse nach Paris durch. In seiner Versnovelle „Organt“ gibt es eine Passage, in der Antoine mit teilweise gequälter Leidenschaft die Erfahrung der „geschändeten Liebe“ verarbeitet:
„So auch die Liebe, die rührendste Liebe, / unter den falschen Gütern, /mit denen menschliche Schwäche / den Weg zum Elend sät; / Sogar die Liebe endet im Leid. / […] / Ach! Das Glück ist nur Einbildung, / gefällige Frucht der Verderbnis! / Doch fühle ich wohl, dass darin irren süß ist: / Man brennt, liebt, und glaubt sich geliebt; / stöhnt auf, doch das Herz ist bezaubert. / Im Angesicht der Liebe stumpft die Weisheit ab, /die Vernunft schreit, doch das Herz widersteht.“

Nun, die beiden werden sich zweifelsohne nach Antoines Rückkehr nach Blérancourt wiedergesehen haben. Haben sie ihre Beziehung wieder aufgenommen? Im19. Jahrhundert galt das als ausgemacht, und verschiedene Biographen äußerten sich in der Richtung. Ernest Hamel, entfernt verwandt mit den Saint-Just, widerspricht lebhaft: eine Verleumdung sei dies, in die Welt gesetzt von irgendwelchen verirrten Seelen, die blind vor Hass das Andenken seines Onkel schänden wollen (Hamel, 65) Und wenn überhaupt: „Wenn schon, später, diese Leidenschaft hervorbrach, wenn schon die jungen Leute, als sie sich einige Monate nach der grausamen Enttäuschung wieder trafen, der Macht ihrer Zärtlichkeit nicht widerstehen konnten und die Pflicht in einem ehebrecherischen Kuss vergessen haben – wer trägt wohl die Schuld?“ (ebd.) Madeleine-Anna Charmelot, umtriebige Biographin von Saint-Just, glaubt jedenfalls sicher, dass Antoine und Thérèse nach 1790 abermals ein Paar waren – und sogar ein gemeinsames Kind gehabt hätten, von dem sie allerdings nicht weiß, was aus ihm geworden ist. Über dieses Kind habe ich nirgendwo sonst etwas finden können; sollte es existiert habe, ist es vielleicht früh verstorben. Allerdings frage ich mich, warum es nicht unter den Kindern Emmanuel Thorins aufgeführt wird, der als Ehemann ja immerhin vor Antoine als offizieller Vater in Frage käme. Und wenn dieser Vater eines von ihm anerkannten Kindes gewesen wäre, hätten sich die Thermidorianer nicht wohl sehr dafür interessiert? – Sie ist es auch, die zu Protokoll gibt, Louis-François Lessassière, Thérèses Taufpate, habe 1790 „auf offener Straße den ,Verführer‘ seiner Patentochter geohrfeigt.“ (Charmelot 1959, 72)4

Thérèse und Antoine II: 1793

Die Frage, ob die beiden nach 1789 ein Verhältnis hatten, lässt sich vielleicht besser ex post diskutieren: Ende Juli 1793 verließ Thérèse ihren Mann und reiste nach Paris. Sie wählte ihr Ziel zweifelsohne danach aus, dass ihr Jugendfreund dort weilte; welchen anderen Grund sollte die junge Frau sonst haben, ausgerechnet in die turbulente Großstadt zu fahren? Von diesen Vorgängen wusste Antoine offenbar nichts, denn es war sein Jugendfreund, Victor Thuillier, der ihn darauf aufmerksam machte. „Ich habe Neuigkeiten über die Frau Thorin“, schrieb er an seinen Freund, „und man glaubt noch immer, dass du sie entführt habest.“ – „Wo zum Teufel hast du denn das geträumt, was du mir da von der Bürgerin Thorin erzählst? Ich bitte dich, all jenen, mit denen du darüber redest, zu versichern, dass ich damit nichts zu tun habe“, kam die Antwort von Saint-Just. Ernest Hamel sowie Jörg Monar nehmen diesen Briefwechsel als Beweis dafür, dass von einer Beziehung zwischen Thérèse und Antoine nach Thérèses Hochzeit keine Rede sein kann; es ist dennoch bemerkenswert, dass die beiden im kollektiven Gedächtnis Blérancourts noch so eng miteinander verbunden waren, dass die Abreise Thérèses sofort mit Saint-Just in Zusammenhang gebracht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Beziehung zwischen den beiden bereits seit sieben Jahren beendet – außerordentlich langes Gedächtnis? Oder vielleicht doch mehr? - Übrigens diskutiert Bernard Vinot die Möglichkeit einer alternativen Datierung der Briefe, deren Plausibilität vor dem Hintergrund verschiedener Umstände gegeben sei. Durch diese andere Datierung wäre Saint Justs Replik nicht nur keine Antwort auf Thuilliers Mitteilung Thérèse betreffend, sondern sogar zeitlich früher anzusetzen als Thuilliers Brief (die Briefe stünden mithin in keinem kausalen Verhältnis zueinander). Das wiederum ließe zumindest die Möglichkeit zu, dass Antoine etwas von Thérèses Trennung gewusst haben könnte - ein Beleg ist dies jedoch nicht.
Einen weiteren Beleg gegen eine außereheliche Beziehung sieht Monar zudem in dem Umstand, dass in der Scheidungsurkunde Thérèses und Emmanuel Thorins kein Ehebruch zu den Akten gegeben wurde: „Wäre Thorin von einer Affäre zwischen Thérèse und seinem früheren Widersacher Saint-Just überzeugt gewesen, so hätte er dies sicher nicht unerwähnt gelassen, um sich für den angetanen Schimpf zu rächen.“ (538f.) Inwiefern es für Saint-Just schimpflich gewesen wäre, wenn Thorin zu Protokoll gegeben hätte, dass seine Frau ihn mit Saint-Just betrogen hätte, während davon im Prinzip schon der ganze Ort überzeugt ist, leuchtet mir nicht so ganz ein. Darüber hinaus müsste es für den gehörnten Ehemann, will man ihm tatsächlich solch primitive Rachegedanken unterstellen, gewiss schimpflicher gewesen sein, sich als Hahnrei zu bekennen. Eines aber gibt Monar Recht: die Ehe wurde wegen „Unvereinbarkeit der Charaktere“ geschieden, nicht wegen Ehebruchs.

Weiterhin ist unbekannt, ob Thérèse während ihres Aufenthalts in Paris Antoine getroffen hat. Allein die zeitliche Komponente gibt Schwierigkeiten auf: Thérèse war keinesfalls durchgehend in Paris; Anfang Oktober war sie zugegen, als in Blérancourt ihre Scheidung eingereicht wurde. Ob sie danach erneut nach Paris aufbrach, ist umstritten. Antoine selber befand sich in jenem Herbst kaum in Paris, sondern en mission im Elsass mit seinem Freund Philippe Le Bas. Dessen Frau Elisabeth Duplay erinnert sich darüber hinaus, dass sie sich relativ am Beginn ihrer Schwangerschaft (der auf den September 1793 zu datieren ist) befand, als ihr Mann erneut en mission gesandt werden sollte und sich entschloss, sowohl sie als auch seine jüngere Schwester Henriette mitzunehmen, die in ihrer Familie mehr oder weniger als Verlobte Saint-Justs galt. Das bedeutet nun aber, dass Saint-Just sich gegen Ende 1793 nicht nur nicht in Paris befand, sondern dass er offenbar auch als „Single“ angesehen wurde – wie ernst sein „Verlöbnis“ mit Henriette genommen werden kann, bzw. ob es sich nicht nur um eine vorübergehende Laune gehandelt hatte, mag dahingestellt bleiben. Charmelot geht selbstverständlich davon aus, dass die Beziehung zwischen Antoine und Thérèse in Paris weiterbestanden hat, dass Thérèses Trennung und Abreise aus Blérancourt auf Initiative oder zumindest deutliche Ermunterung durch Antoine erfolgt ist und dass sie bis zu seinem Tod in Paris gelebt hätte. Nun entgegnet Monar, dass für einen längeren Aufenthalt Thérèses in Paris jeglicher Anhaltspunkt fehle, und auch die Beziehung zu Henriette Le Bas wäre dann mit einem großen Fragezeichen versehen. Andererseits bietet Charmelots These Anhaltspunkte dafür, warum das Verlöbnis zwischen Henriette und Antoine wirklich gelöst wurde (denn ehrlich: weil sie Schupftabak genommen hat??), und lässt den Umzug Antoines aus einer Pension in eine relativ große, sehr luxuriöse Wohnung (mit fließendem Wasser!), in der er sich tatsächlich aufgrund seiner Commissionairestätigkeit kaum aufhielt, plausibler werden. All das sind jedoch keine hinreichenden Indizien.
Die Dreieckssituation, in der sich Antoine im Winter 1793/94 möglicherweise befunden hat, die ungeklärten Verhältnisse sowohl zu Thérèse als auch Henriette, findet eine interessante Parallele in einem Text, den Antoine in dieser Zeit verfasst haben muss, und der sich in den Manuskripten zu den Institutions républicains befindet. Dort wird eine Episode beschrieben, von der natürlich unbekannt ist, ob sie fiktiv oder autobiographisch ist, die aber meines Erachtens sehr starke autobiographische Züge trägt:
Saint-Just, Gemälde von David
„sie kam sehr langsamen Schrittes, sie trat ein umarmte Ihn drückte ihm Die Hand, er warf ihr sanft ihre lange Abwesenheit und ihre Stille vor sie antwortete nichts er führte sie bei der Hand und in seiner Wonung angekommen, bot er ihr die zärtlichsten Liebkosungen dar, sie lächelte und tat kein Wortt. Sie legten sich beide auf einem Bette nieder, sie kostete Kein Vergnügen aber nahm viel Anteil an dem ihres Freundes sie ließ ihre Hände über seinen körper streifen, sie kreuzte ihre beine über den seinen er fragte sie ob sie ihn nicht mehr liebe, sie küsste ihn und behielt eine tiefe Stille bei, so lass mich deinen Mund öffnen függte er mit einem kuss hinzu, sie lächelte, dann warf er ihr vor, dass sie ihm gar nicht geschrieben habe Ich musste kommen antwortete sie – früher als du kamst brachtest du mir mehrere Briefe mit, sie antwortete nicht. Ich werde dich meiden sagt er ihr Sie sagt kein Wort – warum bist du so traurig, – weil du mir gesagt hast, du würdest mich meiden – du warst schon vorher traurig, sie sagte nichts, aber függte er hinzu wo werden wir enden, wir Müssen uns trennen du glaubst also gar nicht an die Zukunft […] – [Er:] Du wirst gleichgültig, aber woher solche Traurigkeit. – du willst, dass ich dir folge. Dazu könnte ich mich niemals entschließen. […] [Er:] in dem Fall lass uns einander Auf der stelle vergessen komm schon fasse Mut wenn wir uns schon eines tages trennen müssen sparen wir uns mehr Bedauern lebe wohl Ich werde eine andere Frau haben Ich bringe dir meine kleinen Kinder du wirst sie wie die deinen lieben – nein, rief sie aus Ich will nicht und sie brach in Tränen aus, während sie ihn mehrfach drückte – Lass uns unsere Schwäche hinter uns lassen, fuhr er fort und er sagte er erneut, dass er eine Frau nehmen würde, die ihr ähnele und dass er ihr seine kleinen Kinnder bringen würde. Ich liebe dich – nun, das müssen wir vergessen uns trennen und einander nicht wiedersehen: sie weint. Er zögerte nicht, ihr zu zeigen, dass er sie noch immer genauso liebte er ließ sie versprechen, am übernächsten Tag wieder zu kommen, sie nahm das Geheimnis ihrer Traurigkeit mit sich […] Er sagte sich, entweder misstraut sie mir, oder sie ist Eifersüchtig, oder sie hat einen Grund, den sie mir verschweigt.“ (Meine Übersetzung, inklusive Saint-Justs berühmt-berüchtigter Orthographie.)
Gleichgültig also, ob Antoine Thérèse tatsächlich wiedergesehen hat (und wie seine Absichten Henriette gegenüber gewesen sein mögen), die Thematik der unerfüllten, melancholischen Liebe beschäftigte Antoine noch Jahre nach dem Aufschrei des brennenden Liebenden in Organt.

Thérèses Scheidung

Im Juli 1794, genauer im Messidor l'an II, wurde ihre Scheidung von Thorin rechtskräftig. Die Begründung lautete, wie oben bereits erwähnt, auf „Unvereinbarkeit der Charaktere“. Sowohl die Scheidung an sich als auch dieser doch sehr weiche Grund (an dieser Stelle ein dreifaches Vivat! auf das liberale Scheidungsrecht der 1. Französischen Republik) werden im familiären und sozialen Umfeld Thérèses aus mehreren Gründen auf Unverständnis gestoßen sein: Zunächst war es weder auf dem Land noch in den gutbürgerlichen Kreisen üblich, sich scheiden zu lassen. Selbst nach Einführung der Scheidung waren es zunächst noch vor allem Menschen (darunter viele Frauen) aus den städtischen, kleinbürgerlichen oder Arbeiter_innenschichten, die eine Scheidung anstreben. In gehobeneren Kreisen galt eine Scheidung nach wie vor als unschicklich. Dazu kommt, dass im konkreten Fall das soziale Umfeld Thérèses äußerst konservativ eingestellt war. Die Gellés wie die Thorins waren trotz ihres fortgesetzten politischen Engagements antirevolutionäre Royalisten geblieben, tatsächlich verbrachten beide Familien (mit Ausnahme Thérèses, die sich bereits von ihnen getrennt hatte) den Herbst/Winter des Jahres II im Gefängnis (ausgerechnet auf Betreiben ihres Erzfeindes Saint-Just wurden sie schließlich freigelassen). Es liegt nahe, dass die Aufhebung eines „vor Gott geschlossenen“ Bundes, noch dazu unter solch „fadenscheinigen“ Gründen wie charakterlicher Inkompatibilität – man erinnere sich, dass Ehen, so auch diese, damals vor allem aus zweckrationalen Gründen geschlossen wurden – als Affront gewertet wurde; zumal auf diese Weise vor allem ein familiäres Bündnis aufgelöst wurde, welches geholfen hatte, die Vorherrschaft der beteiligten Familien zu begründen. In dieser Hinsicht kann die Scheidung durchaus als Politikum gewertet werden: Thérèse verrät ihre soziale Klasse, indem sie sich unter den Schutz derjenigen Schicht stellt, die durch die Revolution an die Macht gekommen sind, und die als Jakobiner und Kampfgenossen Saint-Justs den politischen Feind darstellen.

Nach ihrer Scheidung lebte Thérèse erneut im Haus ihres Vaters. Ihr Ex-Ehemann verheiratete sich bald darauf erneut und konnte in der thermidorianischen Reaktion seine politische Karriere wieder aufnehmen. In der napoleonischen Ära wurde er gar Bürgermeister von Blérancourt. Er starb 1813. Antoine Gellé verstarb 1800. Er hinterließ außer Thérèse noch eine Tochter aus einer früheren Ehe, die ebenfalls Louise hieß und verheiratet war. (Ich nehme an, sie lebte nicht mehr in Blérancourt, denn Charmelots Aufstellung der Einwohner_innen weist neben Antoine Gellé und Thérèse nur noch eine Schwester Gellés als direkte Verwandte auf). Nach dem Tod des Vaters prozessierten Halbschwester Louise und deren Mann kontinuierlich mit Thérèse um ihr Erbe. Dies war zu der Zeit zwar nicht ungewöhnlich, versetzte Thérèse aber in eine schwierige finanzielle Lage, sodass sie zeitweilig ihren Schmuck versetzen musste, um über die Runden zu kommen.
So umstritten ihre Scheidung im konservativen Kreis ihrer Familie gewesen sein mag, Thérèse war danach nicht vollständig im Ort isoliert. Sie besaß einige Freundinnen im Ort, worunter Verwandte der Familie Bigot zu nennen sind, deren Männer sich als Nationalgardisten hervorgetan hatten und zu denen auch Saint-Just in gutem Verhältnis gestanden hatte. Insbesondere stand sie im guten Verhältnis zu einer Familie Dutailly, für deren 1800 geborene Tochter sie Patin stand, und die fortan ihr liebstes Patenkind wurde. Zur Familie Dutailly ließe sich noch anmerken, dass sie zu einem Kreis innerhalb des Ortes gehörte, der insgesamt als recht aufgeklärt und offen für Veränderungen galt. Er setzte sich zusammen aus weniger bis gut begüterten Handwerkern und Händlern, darunter auch der Schwiegerfamilie des oben genannten Freundes von Saint-Just, Victor Thuillier.
Der Patriarch dieser Familie, Augustin Dutailly, war es dann auch, der, zusammen mit seinem Sohn, einem Abbé, zugegen war, als Thérèse am 16. Januar 1806 verstarb. Über die Ursache dieses frühen Todes ist nichts bekannt, Charmelot schlägt allerdings vor, nicht zu übersehen, dass in diesem eher sumpfigen Gebiet die Malaria nicht selten vorkam und die Einwohner_innen vorzeitig erschöpft haben könnte.

Ich habe eingangs diesen biographischen Abriss angekündigt als einen, der selber nicht aktiv in der Revolution geworden ist. Ich möchte damit dennoch nicht verstanden wissen, dass es sich etwa um ein passives Leben handele oder dass Thérèse Gellé eigentlich nur im Hinblick auf Saint-Just erwähnenswert wäre. Natürlich ist dies der Grund, warum man sich überhaupt mit ihr beschäftigt; dennoch bietet ihr Lebenslauf die Möglichkeit, eine meist versteckte Facette der Geschichte vor und während der Französischen Revolution zu beleuchten: es ist eine Geschichte darüber, welche neuen Wege Frauen offenstanden. Am Beispiel Thérèses zeigt sich die familiäre Emanzipation, die fernab der Dekrete der Nationalversammlung stattgefunden hat. Eine junge Frau, die vor der Revolution in die Ehe mit einem ungeliebten Mann gezwungen wurde, der es verwehrt wurde, denjenigen zu heiraten, den sie eigentlich liebt, macht von ihrer neu erworbenen Möglichkeit Gebrauch, ihre Ehe aufzulösen. Ihr genügt dafür der einzige Grund, dass sie selber diese Ehe nicht will, so sieht es das Scheidungsrecht vor. Die Tochter, die vor der Revolution dem Vater als Instrument zur sozialen Karriere diente, wird durch die Revolution zur mündigen Person, mit Rechten ausgestattet und willens, von diesen Gebrauch zu machen. La révolution est en détail.


Quellen:

Jörg Monar (1993): Saint-Just. Sohn, Denker und Protagonist der Revolution. Bonn.

Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just. Les habitants de Blérancourt au début de l'an IV“, in: Annales historiques de la Révolution française, 31 (1959); 61-75.

Madeleine-Anna Charmelot: „Autour de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 38 (1966); 61-83.

Bernard Vinot: „La révolution au village, avec Saint-Just, d’après le registre des délibérations communales de Blérancourt“, in: Annales historiques de la Révolution française, 335 (2004); 97-110.

Bernard Vinot: „Les origines familiales de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 54 (1982); 163-180.

Bernard Vinot (1985): Saint Just. Paris.

Ernest Hamel (1859): Histoire de Saint-Just, député à la Convention Nationale. Paris.

Serena Torjussen: „« Arlequin Diogène », comédie en un acte de Saint-Just“, in: Annales historiques de la Révolution française, 237 (1979); 475-485.

Jean-Philippe Domecq (2011) Robespierre, derniers temps. Paris.


Fußnoten:

1Nicht mitgezählt wurden Kinder unter 12 Jahren; Die Verteilung nach Geschlecht legt eine gewisse Abwanderungsbewegung nahe: auf 97 Männer zwischen 18 und 40 Jahren kommen ganze 178 Frauen gleichen Alters: Das würde auch erklären, warum noch für 1793 die Einwohner_innenzahl mit 1024 angegeben wurde.
2Die Zahlen stammen aus der Tabelle in Charmelot 1959, S. 65f.
3Üblich waren mehrere Aufgebote. Die ungewöhnliche Eile dieses Prozesses lässt sich vielleicht ermessen, wenn man ihn mit einer ganz anderen Eheschließung vergleicht: Auch die Eltern Robespierres hatten nur ein Aufgebot bestellt: die übrigen wurden ihnen angesichts der delikaten und Eile gebietenden Umstände der Hochzeit erlassen...
4Ironischerweise heiratete ein Sohn dieses Herrn später Saint-Justs jüngste Schwester.   

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