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Mittwoch, 30. Mai 2012


Nicht der Mann, der die Revolution ruinierte, sondern der Mann, den die Revolution ruinierte.

Peter McPhee: Robespierre. A revolutionary Life – Book Review.




Es sieht aus, als sei Robespierre wenigstens seit 50 Jahren mehr oder weniger der französische Lieblingsrevolutionär der Historiker_innen des angelsächsischen Sprachraumes. Zumindest sind es jene, die in den letzten Jahrzehnten die interessantesten Arbeiten über Leben und Zeit Robespierres sowie zum Verständnis seiner Persönlichkeit vorgelegt haben; mit Ausnahme der „Amis de Robespierre pour le Bicentenaire de la Révolution“, die eine beispiellose Fülle von Quellen freigelegt haben, ohne die die Interpretationen natürlich gar nicht erst möglich gewesen wären.

Die neueste Biographie über Maximilien Robespierre stammt folglich wieder aus dem angelsächsischen Raum: Der australische (Sozial-)Historiker und Experte der französischen Geschichte seit 1789, Peter McPhee, hat mit „Robespierre – A revolutionary Life“ eine Lebensbeschreibung vorgelegt, die es sich, nicht als erste, aber – wie mir scheint – erfolgreicher als frühere Versuche, zum Ziel gesetzt hat, den Menschen Robespierre vom Mythos des Revolutionärs, des Chefideologen der Terreur, des unbeugsamen, „unbestechlichen“ Verfechters der „Tugend“ zu befreien, und in ihm vielmehr den Mann zu sehen, den „das Chaos der Jahre nach 1789 […] wie alle Bewohner_innen Frankreichs, in eine nie da gewesene, unvorhergesehene Welt der Revolution, Angst und Unsicherheit“ (xviii; meine Übersetzung) geworfen hat. Robespierre, der „Unbestechliche“, so McPhee, ist das Ergebnis des Kindes und Schülers Derobespierre aus Arras und in Paris und des jungen Anwalts de Robespierre aus der artesischen Provinz. Entsprechenden Raum müsse daher den ersten 31 Jahren seines Lebens gegeben werden, die zwar – nicht überraschend – wenig bekannt seien, aber offenbar dennoch genügend Anhaltspunkte bieten, um die Grenze aufzuheben, die den Menschen Robespierre vom Politiker trennen (ebd.).
Der Autor widmet darum immerhin vier der zwölf Kapitel, knapp 60 von 220 Seiten, den Jahren vor 1789 und entfaltet so, allen Lücken zum Trotz, das Panorama einer von tiefgreifendem sozialen, wirtschaftlichen und baulichen Wandel gezeichneten französischen Provinz und einer nicht weniger dynamischen Hauptstadt, an deren Grenze zwischen Bildungs- und Handwerksbürgertum der intelligente und willensstarke, aber auch sensible und schüchterne Maximilien Robespierre heranwächst und als junger Anwalt und Akademiker wirkt. Wo Quellen über seinen bzw. von seinem Helden fehlen, etwa Tagebücher oder persönliche Briefe, verzichtet McPhee auf Spekulationen. Bezüglich einiger heiß diskutierter Unbekannten, namentlich der Bedeutung des Todes der Mutter und der frühen Familienverhältnisse, als auch dem Rätsel, warum Robespierre keine eigene Familie gegründet hat, trägt McPhee zwar die einflussreichsten Mutmaßungen der Geschichtsschreibung zusammen, ohne jedoch einer Lesart den Vorzug zu geben. Stattdessen besteht er darauf, dass man die Wahrheit mangels Quellen schlicht nicht wissen könne (5f.; 48f.).
Die Verweigerung von Spekulationen, für die letztlich jeglicher Anhaltspunkt fehlt, hat indes zur Folge, dass McPhee, anders als viele Biograph_innen vor ihm, Robespierre wirklich als Mensch ernst nimmt. Er psychologisiert und pathologisiert ihn nicht, wie viele Biograph_innen vor ihm, die teilweise in jedem galanten, à la mode verfassten Brief Robespierres Gehemmtheit oder Unzulänglichkeit (Max Gallo), und in einem falsch orthographierten Eigennamen – im 18. Jahrhundert übrigens keine Seltenheit – einen Wunsch nach Kastration (Jean Artarit; s.a. hier, Abschn. 1) bemerkten. Es kommt immer wieder vor (und bei Robespierre scheinbar öfter als bei anderen), dass der_die Biograph_in seine/n_ihre/n eigene_n Held_in nicht versteht. Da liegt es nahe, Zuflucht in weiter oder näher hergeholten Theoremen (etwa Psychopathologie) zu suchen, oder, wie Ruth Scurr, gleich zuzugeben, dass Robespierre „bemerkenswert seltsam“ sei (zit. nach McPhee, 203). Es sei dahingestellt, ob eine solche Verfahrensweise dem_der Held_in wirklich gerecht wird. McPhee jedenfalls nimmt davon ganz Abstand, er zeigt Respekt für das Leben und Wirken Robespierres, ohne sich in müßigen Vermutungen darüber zu ergehen, was dieser nun warum unterlassen habe. Dieser Respekt, diese Sympathie für den Protagonisten seiner Biographie gestattet ihm, Facetten in Robespierres Leben und Wirken zu erkennen, die bislang zwar bekannt waren, aber seltsam unterbelichtet blieben.

So bekräftigt McPhee immer wieder, dass Robespierre in ein recht weitläufiges Netzwerk von Freundschaften eingebunden war, die meist über mehrere Jahre Bestand hatten und die Robespierre selber, so gut es seine Arbeitsbelastung zuließ, pflegte. Zu den Freund_innen Maximiliens gehörten natürlich die bekannten Saint-Just, die Duplays (insbesondere Vater Maurice und Eléonore), die Desmoulins, Danton, Couthon und Le Bas. Eine viel zentralere Position weist McPhee allerdings dem Arraser Freund Antoine Buissart und seiner Frau Charlotte zu, die seit den Anfangsjahren als Anwalt und die gesamte Revolution hindurch bis zu Robespierres Tod eine enge und aufrichtige Freundschaft zu ihm unterhielten. Neben vielen anderen Pariser Freund_innen erwähnt der Autor insbesondere François-Pierre Deschamps, für dessen 1792 geborenen Sohn Maximilien-François Robespierre Pate stand. Seither bestand eine Freundschaft zwischen den beiden Männern, an der auch Deschamps Frau Catherine und Maximilien-François' Patin, Rosalie Vincent, teil hatten. Ebenfalls interessant: unter den Freund_innen des „Unbestechlichen“ fanden sich auffallend viele Frauen. Neben den oben genannten und den Frauen seiner Familie, namentlich Tanten und Schwester(n), zu denen Maximilien offensichtlich ein enges Verhältnis hatte, gehörten zu seinen Freundinnen auch Mademoiselle Dehay (McPhee schreibt sie „Duhay“, scheint mir damit aber der Einzige zu sein) aus Béthune und Jeanne-Marguerite Chalabre aus Paris. Letztere legt, als politische Freundin, immerhin zweierlei nahe: 1., Robespierre hatte wohl nicht unbedingt etwas gegen Frauen, die sich an politischen Diskussionen beteiligten (wenngleich er offenbar auch gar nicht erst auf den Gedanken kam, ihnen das Wahlrecht zuzugestehen), und er war 2. durchaus in der Lage, von der sozialen Herkunft eines Menschen zu abstrahieren: Mme Chalabre entstammte ursprünglich dem Hochadel.

Einen weiteren kleinen Schwerpunkt setzt McPhee auf die familienpolitischen Ansichten Robespierres. Dessen romantisches Ideal einer Familie, die von gegenseitiger Zuneigung geprägt ein Hort der Wärme, aber auch der republikanisch-moralischen Formation ist, lässt sich unschwer in verschiedenen Reden, beispielsweise in denen zur Bildung (29. Juli 1793/ 11. Thermidor an I) und über seine religiösen und moralischen Vorstellungen (7. Mai 1794/ 18. Floréal an II) erkennen. Sein Biograph hebt allerdings zudem das bereits vor der Revolution beginnende Engagement für die rechtliche Gleichstellung unehelich geborener Kinder hervor (siehe auch hier). Robespierres Beschäftigung mit diesem Thema ging aus der Teilnahme an einer Preisausschreibung der Akademie von Metz im Jahre 1784 hervor, in der gefragt wurde, ob es gerecht sei, Kinder und andere Familienmitglieder von Verbrecher_innen ihrer bürgerlichen Rechte zu berauben. Die ursprüngliche Frage zielte offensichtlich auf die Übertragung der Schuld schwerwiegender Verbrechen auf die Familie des_der Deliquent_in ab, wie sie in Frankreich etwa im Zuge der Verurteilung Damiens noch getätigt wurde. Robespierre aber erweiterte die Frage in einer Rede vor der Arraser Akademie um die Frage, ob es rechtens sei, unehelich geborene Kinder für die „Sünden ihrer Väter zu zeihen“ (zit. nach McPhee, 39) und ihnen bürgerlichen Status zu verwehren. Zwei Jahre später, anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten der Akademie von Arras 1786, griff Robespierre das Thema erneut auf und „sprach ,sieben Viertelstunden langʻ über ,die Rechtsprechung in Bezug auf die Rechte und Lebensumstände von Bastardenʻ.“ (43) Hierin geißelte er nicht nur die ungerechte Rechtssprechung, der unehelich geborene Kinder unterworfen waren, sondern bereits die soziale Ungleichheit, die überhaupt erst die Ursache dieser und anderer „Vergehen“ darstelle (ebd.). Die persönliche Betroffenheit des halb-unehelich geborenen Redners wird den Zeitgenoss_innen nicht verborgen geblieben sein, allerdings äußerte sich Robespierre mit keinem Wort über seine eigene Herkunft. Sein Plädoyer für die Gleichberechtigung unter Geschwistern, diesmal mit dem Fokus der Gleichstellung zwischen Töchtern und Söhnen im Erbrecht, wiederholte er fünf Jahre später in der Nationalversammlung (88).

Relativ viel Raum – drei Kapitel – widmet McPhee dem letzten Jahr Robespierres. Er zeichnet darin das Portrait eines völlig erschöpften Mannes, der bereits im Juli 1793 erklärt hatte: „Ich habe nicht mehr die Kraft, gegen die aristokratischen Intrigen zu kämpfen. Von vier Jahren schwieriger und fruchtloser Arbeit erschöpft, fühle ich, dass meine physischen und moralischen Quellen dieser großen Revolution nicht genügen, und ich erkläre, dass ich zurücktreten werde.“ (158) Die Ermordung Marats und der desolate Zustand der bedrohten Republik mögen ihn davon überzeugt haben, dass es dennoch notwendig war, sich weiter zu engagieren, doch der Robespierre, der aus dieser moralischen Krise aufstand, bewegte sich am Rande des physischen und psychischen Zusammenbruchs. Zunehmend auf die Arbeit persönlicher Vertrauter angewiesen (was dann später den Gerüchten um „seine“ Diktatur Tor und Tür öffnete), von immer häufigeren und langwierigeren Krankheiten an Haus gefesselt, schließlich auch persönlich betroffen vom schmerzlichen Kampf gegen die ehemaligen Freunde Danton und Desmoulins, verlor Robespierre zunehmend diejenigen Fähigkeiten, die in den Jahren zuvor seine Stärke gewesen waren, sein taktisches Geschick, seine Weitsicht und das unbedingte Festhalten an seinen humanistischen Idealen (206). „Von März [1794] an“, schreibt McPhee, „stand seine Leistungsfähigkeit als Führer [capacity for Leadership] im Widerspruch zu seinem Status und Ansehen.“ (188) Im Klima der Erschöpfung, der Anschuldigungen seitens seiner (nicht minder erschöpften) Kollegen, der Angst vor Anschlägen, gleichzeitig aber auch der außen- und innenpolitischen Konsolidierung, insbesondere nach dem Sieg bei Fleurus (16. Juni 1794/ 28. Prairial an II), scheint Robespierre schließlich die  politische Orientierung verloren zu haben, woraus letztlich die völlig irrationale, strategisch katastrophale Rede vom 8. Thermidor (26. Juli 1794) resultierte. Die in der Folge entstehende Allianz der Gruppen von Abgeordneten, die sich – zu Recht oder auch nicht – in Lebensgefahr wähnten, schließlich auch Robespierres Anklage gegen den Finanzkommissar Joseph Cambon, schwerlich ein Kandidat für begründeten Korruptionsvorwürfe, gewann im Laufe der folgenden 24 Stunden eine tödliche Eigendynamik, die durch sachliche Argumente (wie sie z.B. Saint-Just in seiner ungehaltenen Rede vom 9. Thermidor hätte liefern können) nicht aufgehalten hätte werden können. „Es gab so viele Fraktionen und Ängste, dass die Angst nur dadurch beendet werden konnte, indem man Robespierre als Sündenbock gebrauchte.“ (216f.) McPhee interpretiert somit den Sturz Robespierres nicht als Folge der persönlichen Eigenschaften oder Taten Robespierres – sich auch hier von früheren Biograph_innen unterscheidend –, sondern als die Durchschlagung des gordischen Knotens einer unmöglichen Situation, in der Robespierre als Menschenopfer diente.


Peter McPhee: Robespierre. A revolutionary Life. Yale University Press: New Haven and London, 2012. ISBN: 978-0-300-11811-7; Verlaginfo hier.

Nachtrag: Annie Jourdan hat eine lesenswerte Rezension zu McPhees Biographie verfasst, in der sie u.a. darauf hinweist, dass Robespierre letztlich über sehr wenig Welterfahrung verfügte und für einen (angeblich) Gelehrten seiner Zeit bemerkenswert wenig gereist sei. [auf Französisch]

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