Translate into your language

Freitag, 25. Mai 2012


Was vor 10.000 Jahren funktioniert hat, kann heute nicht falsch sein...


Verfolgt man neuro-biologische, psychologische und andere (natur- und populär-) wissenschaftliche Studien, die sich mit der Bestimmung der Geschlechtscharaktere von Männern und Frauen (!) beschäftigen – um Verhaltensunterschiede festzustellen natürlich –, gerät die theoretische Rahmung der Befunde auffällig häufig zu einem Exkurs in die Frühstgeschichte der Menschheit: eine bestimmte Rollenverteilung unter den Geschlechtern sei durch die Evolution bedingt und habe seit menschengedenken die und die Aufgabe erfüllt. Beispiele findet ihr hier (maskulinistisch), hier, hier (sexuelle Übergriffe sind evolutionär bedingt – na dann ist ja nicht so schlimm!) und, ganz aktuell, hier
Meist klingt das auch alles sehr plausibel: warum sollten z.B. Männer nicht das bessere räumliche Vorstellungsvermögen haben, wenn sie als Jäger und Sammler den ganzen Tag im Raum unterwegs waren, während Frauen immobil das Feuer bewachten? Das ist doch logisch. Erstaunlich logisch und erstaunlich vertraut. Warum auch nicht, wo wir doch durch die Familie Feuerstein quasi allesamt Steinzeitexpert_innen sind? Das Problem an frühgeschichtlichen Erklärungen für gegenwärtige Phänomene ist allerdings: sie sind zwar nicht aus der Luft gegriffen, verdrehen aber Ursache und Wirkung.

Da ist zunächst einmal das Problem der historischen Verortung: zu welchem mystischen Zeitpunkt haben sich Verhaltensweisen „evolutionär“ eingeschrieben? Der Zeitraum bis zu welchem die Evolution des Menschen stattfindet wird von den Anhänger_innen der geschlechtsspezifischen Humanevolution gerne in die Epoche vor Beginn der letzten Eiszeit vor über 10.000 Jahren datiert. Problem: aus dieser Zeit sind keine Überlieferungen über die soziale Ordnung unter unseren Vorfahr_innen – und schon gar nicht über das Verhältnis der Geschlechter – erhalten. Zwar existieren seit Beginn der wissenschaftlichen Frühzeitforschung vielfältige Theorien darüber, wie die menschliche (Proto-)Gesellschaft der Steinzeit ausgesehen haben könnte, und vom Matriarchat bis zum Patriarchat, vom radikalen Wettbewerb bis zum Urkommunismus ist so ziemlich alles dabei. Hinweise gibt es jedoch für alles und nichts. Der Grund ist ziemlich offensichtlich: die ersten schriftlichen Aufzeichnungen, die uns gesichert(er) über das Zusammenleben der Menschen Auskunft geben können, entstanden erst deutlich später (die ältesten Funde datieren von ca. 4000 v.u.Z.) – ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die Frühhistoriker_innen bis heute mit der Entzifferung der Zeichen haben.
So biologisch...

Da liegt doch der Schluss nahe, dass die Mär von der evolutionären Notwendigkeit und der Versicherung, Geschlechtsunterschiede und Rollenzuweisungen seien irgendwie "natürlich" (biologisch), letztlich nichts anderes darstellt als eine Rückspiegelung der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse auf die an sich weiße Leinwand der „Urzeit“. Weil ein Großteil der bisher bekannten Menschheitsgeschichte mehr oder weniger zwischen Geschlechtern unterschieden und/oder Männern die öffentliche Sphäre zugewiesen hat, argumentieren Evolutionstheoretiker_innen, dass es „immer schon“ so war. Ihre wissenschaftliche Basis dafür bildet interessanterweise allerdings nicht die Frühgeschichte oder Archäologie, wie man wohl erwarten könnte, sondern (und jetzt wird es richtig abwegig) Studien, die sie – naheliegenderweise – unter Zeitgenoss_innen durchgeführt haben. Mit anderen Worten: aus den Charakterprofilen, Verhaltensweisen, Einstellungsmustern usw. von Personen des 20. und 21. Jahrhunderts (und Soziolog_innen würden hinzufügen: Personen, die ihrer gesellschaftlichen Umwelt entsprechend sozialisiert wurden) ziehen Evolutionswissernschaftler_innen Rückschlüsse darauf, wie Menschen schon immer waren und immer sein werden. Zur Illustration ihrer Ergebnisse greifen sie zurück auf den prähistorischen Zustand, der – genau! – in der Logik des modernen Verständnisses von Geschlecht definiert wird. Wir lernen: die Steinzeit ist heute und Fred Feuerstein hat recht. Ja, was heute stimmt kann damals nicht so falsch gewesen sein...


Anmerkung vom 4. Juni 2012: die Mädchenmannschaft hat mich auf diesen schönen Artikel über Neurosexismus aufmerksam gemacht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen