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Donnerstag, 9. Mai 2013


"Sagt uns um Himmels Willen, wer Robespierre war!" - Book Review



Recht überraschend und mit nicht mehr Anlass als des Aufkaufs einiger persönlicher Papiere durch die Französische Republik ist 2012 auch das Jahr Maximilien Robespierres geworden. Gleich drei im zur Neige gehenden Jahr erschienene biographische Skizzen sind ihm gewidmet: Nach der (hier bereits besprochenen) Biographie Peter McPhees und der Skizze Cécile Obligis ist im September eine von Michel Biard und Philippe Bourdin herausgegebene Aufsatzsammlung mit dem Titel „Robespierre. Portraits croisés“ erschienen.

Die Herausgeber, ihres Zeichens gegenwärtige (Biard) und vergangene (Bourdin) Vorsitzende der Société des études robespierristes, nehmen in ihrem Vorwort direkt Bezug nicht nur auf den mit relativ großen öffentlichen Interesse verfolgten und etwas weniger großer finanzieller Unterstützung einiger Tausend Bürger_innen gewährleisteten Ankauf der Manuskripte Le Bas' und Robespierres, sondern auch auf jüngste, nun, Verirrungen der populärwissenschaftlichen Darstellung der Französischen Revolution (die Zeitschrift „Historia“ titelte 2011: „Robespierre: le psychopathe légaliste“, und der öffentlich-rechtliche Sender France 3 widmete Robespierre, dem „Henker der Vendée“ eine Sendung). Das Fazit dieser Einleitung lautet also wenig überraschend: die französische Öffentlichkeit scheint zwar irgendwie zu wissen, dass Robespierre total wichtig für die Geschichte des modernen Frankreichs ist, neigt aber noch immer dazu, in ihm einen kalten, ins Pathologische abdriftenden Fanatiker zu sehen. Nun ist die Entdeckung, dass die historische Persönlichkeit XY gar nicht richtig wahrgenommen wird, nicht neu (so ziemlich jedes Jahr, nämlich immer dann, wenn eine historische Persönlichkeit vor soundsovielen Jahren geboren oder gestorben ist, erfahren wir das schließlich in Feuilletons und Geschichtsheftchen aufs Neue). Es ist auch überhaupt nicht wünschenswert, irgendeine Person einmal für alle Zeiten „richtig“ interpretiert zu haben: die Geschichtsschreibung lebt schließlich von ihren Neuinterpretationen vor dem Hintergrund der jeweiligen gegenwärtigen Realität. Das bedeutet aber für den vorliegenden Band erst einmal nicht mehr, als dass es sehr schwer ist, Vorworte zu verfassen, die nicht abgedroschen klingen.

Des ungeachtet entfaltet der Band in der Folge ein Panorama biographisch-ideengeschichtlicher Essays um den Politiker und aufgeklärten Menschen seiner Zeit Robespierre. In lose biographischer (angefangen mit dem Anwalt aus Arras) Reihenfolge ordnen die Autor_innen – darunter auch Peter McPhee als einziger nicht-französischer Historiker – die politischen Ansichten Robespierres in die Ideen seiner Zeit ein. Ganz nebenbei enthüllen sie damit auch – und das, ohne vollständig zu sein – die große Reichweite seiner Interessen. Von der Familienpolitik und Erziehung über die soziale Frage, die Todesstrafe, die Religion bis hin zum Krieg und der „Kolonialfrage“ entwickelte Robespierre zu allen Themen eine Meinung. Oft genug war diese Meinung nicht überbordend originell und ging kaum über den Standard seiner Zeit und seines Milieus hinaus. Insbesondere die „weltmännische“ Liberalität eines Condorcet geht dem Provinzschwärmer Robespierre ab. In manchen Fällen jedoch zeichnen sich die Ansichten Robespierres durch faszinierende Kniffe, unerwartete Blickwinkel oder eine überraschende Modernität aus (mit der hinwieder der Liberale Condorcet nicht aufwarten kann).
Besonders spannend fand ich in dieser Hinsicht die Beiträge über die Todesstrafe (von Jean Bart), den Krieg (von Marc Belissa) und über die soziale Frage (von Jean-Pierre Jessenne). In all diesen Bereichen, mehr womöglich als den übrigen Diskussionsthemen der Revolution (inklusive der Menschenrechte, tut mir leid, das sagen zu müssen!) entschied sich faktisch Verlauf und Ausgehen der Revolution und somit, auch wenn das etwas pathetisch klingt, die Geschichte Europas.


Jean Bart beginnt seine Ausführungen mit dem rhetorischen Widerspruch, Robespierre zugleich als Abolitionisten der Todesstrafe, und gleichzeitig auch als Apologeten der guillotinengestützen Schreckensherrschaft zu betrachten. Tatsächlich war Robespierre während der Constituante weder der einzige noch der einflussreichste Gegner der Todesstrafe. In seinem discours gegen die Todesstrafe vom 30. Mai 1791 finden sich daher viele Gedanken und Beispiele berühmter Zeitgenossen wieder (worauf der Redner durchaus die Stärke seiner Argumentation stützt, von denen Bart vor allem den (nicht namentlich referierten) Mailänder Philosophen Cesare Beccaria heraushebt).
Anderthalb Jahre nach dieser Rede plädiert Robespierre für den Tod des ehemaligen Königs. Seine Haltung gegen die Todesstrafe, betont er, hat er indes nicht aufgegeben. Am 16. Januar 1793 geht er noch weiter und erklärt, das Gefühl, das ihn dazu bewogen habe, für die Abschaffung der Todesstrafe zu stimmen, sei dasselbe, das ihm nun eingebe, in diesem Fall das Todesurteil auszusprechen. Die komplizierte Logik dahinter besteht sowohl für Robespierre als auch für andere jakobinische Abolitionisten wie Le Peletier, aber auch für Beccaria, darin, dass es sich um zwei verschiedene Fragen handelt, die darum auch nicht, wie Condorcet es im Falle des Prozesses gegen den König versucht hat, in einem Atemzug verhandelt werden. Die Frage der Todesstrafe ist eine juristische: Ist es dem positiven Recht gestattet, über Leben und Tod der dem Gesetz Unterworfenen zu urteilen? Ist es der Gerichtbarkeit gestattet, eine Strafe auszusprechen, die irreversibel oder, mehr generell, durch besondere Strenge ausgezeichnet ist? Die Antwort ist ein klares „Nein“. Die Frage der Verurteilung des Königs (Robespierre distanziert sich in seiner Rede vom 3. Dezember 1792 sogar von der Terminologie der „Verurteilung“ oder Rechtsprechung) oder der „Verdächtigen“ der Schreckensherrschaft ist hingegen eine politische Frage. Der revolutionäre Staat hat eben noch keine Rechtsordnung, er befindet sich im Krieg gegen äußere wie innere Feinde und kämpft um sein Überleben. So gesehen, ist die junge Republik keineswegs stärker oder stabiler in ihrem Überleben, als es ein potenzieller Feind ist, insbesondere ist sie nicht mächtiger als es das Bild des Königtums ist, das Louis XVI repräsentiert. Im Kampf um Leben und Tod geht es nicht um Rechtsprechung und Strafe, zunächst nicht einmal um „Gerechtigkeit“, sondern um das „Gesetz natürlicher Verteidigung“, das Robespierre 1791 dem Rechtsstaat entgegen gestellt hatte: Töten, um nicht getötet zu werden.


In der Einstellung Robespierres zu Militär und Krieg teilt Marc Belissa nach den Epochen vor der Kriegserklärung Frankreichs an den König von Ungarn und Böhmen im April 1792, von diesem Zeitpunkt bis zu seinem Eintritt in die Regierungsverantwortung im Juli 1793, und in sein letztes Lebensjahr. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund macht diese Einteilung durchaus Sinn, äußert sich doch der Tagespolitiker 1790 anders als 1792 und anders als im Winter 1794. Dennoch, betont Belissa, bleiben die Ansichten Robespierres außerordentlich konstant. Diese Konstanten im Denken Robespierres sind ein hellsichtiges Misstrauen gegenüber einer Berufsarmee, dem unbedingten Festhalten an den Zwecken und Zielen der Revolution und die Ablehnung gegenüber Eroberungskriegen.
Seit 1790 fordert Robespierre vor der Nationalversammlung die Einrichtung einer Volksarmee. Ein Heer ständig bewaffneter Soldaten, das einem im Grunde unbewaffneten Volk gegenüber steht, argumentiert er, sei immer ein Mittel der Unterdrückung der Regierung sowie ein Hort des „Aristokratismus“, denn eine Armee, die der Herrschaft zur Verfügung steht, beruht niemals auf demokratischen, sondern autoritären Hierarchien. Was für das Verhältnis zwischen der Nation und ihrer Armee gilt, soll auch für die Beziehungen zwischen den Völkern gelten: nicht das Machtgefälle zwischen Eroberern und Unterdrückten soll zwischen ihnen herrschen, sondern die „Brüderlichkeit, die die Natur anempfohlen hat.“ (99, meine Übersetzung)
In der Diskussion um den Krieg, die Robespierre nicht als Berufspolitiker verfolgt, denn er ist Ende 1791 und in der ersten Hälfte 1792 kein Abgeordneter, nimmt dieser die Gelegenheit wahr, sich umfassender zur „großen Frage des Völkerrechts“ zu äußern. Gleichzeitig formuliert er eine Position zum Export der Französischen Revolution, die, anders als es einige Kritiker behauptet haben, nicht auf die französische Nation beschränkt bleiben soll. Bekannt ist die Aussage Robespierres vor dem Jakobinerclub: „Niemand liebt bewaffnete Missionare“, und tatsächlich kann seine Position teilweise so wiedergegeben werden. Andererseits jedoch wird Robespierre nicht müde, an die Interessen der Revolution zu gemahnen: der Krieg sei die letzte Rettung des Königs, erinnert er 1791. Indem der Schauplatz der Politik vorsätzlich an die Grenzen des Landes (und über die Grenzen hinaus) verlagert wird, drohen sowohl die Errungenschaften als auch, wichtiger, die noch nicht erreichten Ziele der Revolution aus dem Blick zu geraten. Wer die Feinde der Revolution in Europa bekämpfen wolle, dürfe nicht den Fehler begehen, die Feinde in Frankreich selber zu übersehen, wiederholt er. Auch die „Befreiung“ Belgiens erfährt Kritik: in seiner Zeitung „Le Défenseur de la Constitution“ ruft Robespierre das belgische Volk „zur Solidarität angesichts ihrer gemeinsamen Unterdrücker“ auf, „darunter die französischen Generäle selber“. (103, meine Übersetzung) Wohlgemerkt, Robespierre bezieht keine pazifistische Stellung, und auch keine der Nichteinmischung: alle Völker, die den Freiheitskampf aufgenommen haben, könnten sich auf die Solidarität Frankreichs verlassen.
1793 schlägt Robespierre vergebens vor, in die Verfassung desselben Jahres eine Formulierung aufzunehmen, die die Solidarität der Völker und ihre gegenseitige Unterstützung gegen jedwede Unterdrücker festschreibt. Auch unterstützt er die Bemühungen Barères um diplomatische Beziehungen zum Ausland. Was den Krieg betrifft, so soll er so schnell als möglich gewonnen werden, um sich hernach der innenpolitischen Konsolidierung zuzuwenden. Der „Krieg“ ist für Robespierre allerdings noch immer derjenige gegen die Konterrevolutionäre sowohl an den Grenzen als auch im Inland. In diesem Sinne ist auch die Terreur und ihre Verschärfung im Laufe des Jahres II zu verstehen. Noch immer lehnt Robespierre Eroberungspläne der jungen Republik ab, und gerät mit dieser Einstellung in Konflikt mit Kollegen wie Carnot und Prieur-de-la-Côte-D'Or. Wie ernsthaft dieser Konflikt war, zeigt sich auch daran, dass Robespierre in seiner Verteidigungsrede am 8. Thermidor deutlich dazu auffordert, denn Krieg baldigst „zum Wohle unserer Prinzipien“ zu beenden, anstatt „sterile Freiheitsbäume auf feindlichem Boden“ zu pflanzen.
Angesichts des Misstrauens Robespierre gegenüber dem Militarismus und seiner Ablehnung militärischer Eroberungen gehört es zu den Ironien der Geschichte, dass sein wohl erfolgreichtsre Protégé Napoleon Bonaparte war...

Hatte Robespierre eine geschlossene sozialpolitische Programmatik? Und was waren ihre Fundamente und Grenzen?, fragt Jean-Pierre Jessenne. Bereits während seiner Zeit als Anwalt und Akademiker hatte Robespierre immer wieder die von Rousseau geprägte Position zu vertreten, nach der materielle Ungleichheit zwischen den Menschen zur Destabilisierung des Gemeinwesens nicht weniger beiträgt als Unfreiheit. Über diese bibliographische Meinungsbildung hinaus, argumentiert der Autor, hat auch die persönliche Erfahrung als Anwalt armer Klienten gegen mächtige Institutionen (etwa der Abtei von Anchin im Deteuf-Prozess) wesentlich dazu beigetragen, dass Robespierre, anders als viele seiner Kollegen, bereits in der Nationalversammlung kaum eine Gelegenheit ausließ, seine Verteidigung der Menschenrechte auf ihrer Universalität und explizit auf ihrer unbedingten Anwendung auf die männlichen Franzosen der unteren Klassen aufzubauen. Dies geht allerdings über die Verteidigung eines Prinzips hinaus; tatsächlich wiederholt Robespierre im Laufe der Zeit oft, dass das oberste Ziel der Revolution darin besteht, die Rechte des Volkes gegen die Usurpation seiner Feinde, der „Reichen“ zu verteidigen. Aus dieser simplifizierten Dychotomisierung, die im Übrigen mit einer „Quasi-Sakralisierung“ (S. 150) des Volkes und Dämonisierung der „Reichen“ einhergeht, folgt für die richtigen Revolutionäre der Kampf gegen das Elend des Volkes. Im Namen der rechtlichen Gleichheit darauf zu verzichten, die materielle Ungleichheit zwischen oberen und unteren Klassen zu mildern, ist darum ebenso unrepublikanisch, wie der Unterhalt der Ärmsten eine Pflicht der Republik ist.
Dennoch bleibt Robespierre seltsam inkonsequent, wenn es darum geht, die „Gleichheit der Reichtümer“ zu promovieren. Tatsächlich ist stets von Ungleichheit und ihrer „Milderung“ die Rede, als sei die Existenz von Ungleichheit grundsätzlich nicht diskutabel: die Dichotomie zwischen „Volk“ und „Reichen“ ist offenbar zu wichtig für die Konsolidierung der Republik, als dass Robespierre auf sie verzichten könne. So bleibt seine Argumentation durchgehend an der Oberfläche: eine Art Sozialhilfe, progressive Steuern, staatliche Schulbildung. Keine Beschneidung des Privateigentums (außer durch besagte Steuer), keine Einmischung in die frühkapitalistische Arbeitsorganisation, keine Agrarreform. Robespierre selber gibt zu, von finanziellen Fragen kaum Ahnung zu haben und mischt sich darum kaum in die Umsetzung der von ihm geforderten sozialen Maßnahmen ein. Und in seiner Rede über die Grundversorgung verleiht er einem ordinären Glauben an die freie Marktwirtschaft Ausdruck. Eine „Sozialpolitik des egalitären Liberalismus“ nennt Jessenne daher Robespierres Einstellung.
Das primäre Interesse Robespierres, den Erhalt der revolutionären Regierung, trägt indes in den politischen Handlungen Robespierres, gerade im Jahr II, stets den Sieg vor den sozialpolitischen Erwägungen davon. Zweifellos hat Robespierre starke sozialpolitische Überzeugungen, oftmals widersprüchlich, utopisch, nicht selten dermaßen vormodern, dass sie uns nur mehr ein Kopfschütteln entlocken. Dennoch, diese Überzeugungen lassen sich in verschiedenen Reden Robespierres, etwa der zur Erziehung oder dem Entwurf einer neuen Menschenrechtserklärung (beide 1793), nachvollziehen. Die Notwendigkeit der staatserhaltenden Machtpolitik der Terreur, die traditionell gerne, aber nicht ganz richtig, als „Kriegskommunismus“ bezeichnet wird, haben auch diese Überzeugung in den Hintergrund treten lassen.

Was bleibt nun nach der Lektüre des knapp 290 Seiten langen Bandes? Drei Eindrücke herrschen vor: 1. Robespierre hat seinen Ruf als „Generalist“ wohl verdient, besieht man die Vielzahl der Themen, zu denen Robespierre nicht nur eine Meinung, sondern eine durchaus reflektierte, vielschichtige Position vertrat. 2. In vielen Punkten war diese Position durchaus typisch für seine Zeitenoss_innen, in anderen Punkten offenbart Robespierre tatsächlich moderne Ansichten. Manche seiner Überlegungen sind überaus widersprüchlich, andere brechen vor dem logisch nächsten Schritt abrupt ab. Keine indes wurde im Laufe der Revolution von Robespierre grundsätzlich in Frage gestellt.1 3. Gleichwohl war Robespierre, wie seine Kollegen, bereit, seine Überzeugungen vorübergehend hintenan zu stellen, um den Fortbestand der Republik während der innen- und außenpolitischen Krisen zu gewährleisten. War er bis 1792 unbestechlicher Ideologe der Demokratie und der Menschenrechte, akzeptierte er danach, insbesondere nach seiner unfreiwilligen Wahl in den Wohlfahrtsausschuss, die Rolle des Machtpolitikers.

1  Es gibt jedoch auch Interpretationen, nach denen Robespierre seine ursprünglich abolitionistische Haltung zur Sklaverei abgemildert habe. Vgl. Bernard Gainot, „Robespierre et la question coloniale“, S. 79-94.

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