"Sagt uns um Himmels Willen, wer Robespierre war!" - Book Review
Recht
überraschend und mit nicht mehr Anlass als des Aufkaufs einiger
persönlicher Papiere durch die Französische Republik ist 2012 auch
das Jahr Maximilien Robespierres geworden. Gleich drei im zur Neige
gehenden Jahr erschienene biographische Skizzen sind ihm gewidmet:
Nach der (hier bereits besprochenen) Biographie Peter McPhees und der
Skizze Cécile Obligis ist im September eine von Michel Biard und
Philippe Bourdin herausgegebene Aufsatzsammlung mit dem Titel
„Robespierre. Portraits croisés“ erschienen.
Die
Herausgeber, ihres Zeichens gegenwärtige (Biard) und vergangene
(Bourdin) Vorsitzende der Société des études robespierristes,
nehmen in ihrem Vorwort direkt Bezug nicht nur auf den mit relativ
großen öffentlichen Interesse verfolgten und etwas weniger großer
finanzieller Unterstützung einiger Tausend Bürger_innen
gewährleisteten Ankauf der Manuskripte Le Bas' und Robespierres,
sondern auch auf jüngste, nun, Verirrungen der
populärwissenschaftlichen Darstellung der Französischen Revolution
(die Zeitschrift „Historia“ titelte 2011: „Robespierre: le
psychopathe légaliste“, und der öffentlich-rechtliche Sender
France
3 widmete Robespierre, dem „Henker der
Vendée“ eine Sendung). Das Fazit dieser Einleitung lautet also
wenig überraschend: die französische Öffentlichkeit scheint zwar
irgendwie zu wissen, dass Robespierre total wichtig für die
Geschichte des modernen Frankreichs ist, neigt aber noch immer dazu,
in ihm einen kalten, ins Pathologische abdriftenden Fanatiker zu
sehen. Nun ist die Entdeckung, dass die historische Persönlichkeit
XY gar nicht richtig wahrgenommen wird, nicht neu (so ziemlich jedes
Jahr, nämlich immer dann, wenn eine historische Persönlichkeit vor
soundsovielen Jahren geboren oder gestorben ist, erfahren wir das
schließlich in Feuilletons und Geschichtsheftchen aufs Neue). Es ist
auch überhaupt nicht wünschenswert, irgendeine Person einmal für
alle Zeiten „richtig“ interpretiert zu haben: die
Geschichtsschreibung lebt schließlich von ihren Neuinterpretationen
vor dem Hintergrund der jeweiligen gegenwärtigen Realität. Das
bedeutet aber für den vorliegenden Band erst einmal nicht mehr, als
dass es sehr schwer ist, Vorworte zu verfassen, die nicht
abgedroschen klingen.
Des
ungeachtet entfaltet der Band in der Folge ein Panorama
biographisch-ideengeschichtlicher Essays um den Politiker und
aufgeklärten Menschen seiner Zeit Robespierre. In lose
biographischer (angefangen mit dem Anwalt aus Arras) Reihenfolge
ordnen die Autor_innen – darunter auch Peter McPhee als einziger
nicht-französischer Historiker – die politischen Ansichten
Robespierres in die Ideen seiner Zeit ein. Ganz nebenbei enthüllen
sie damit auch – und das, ohne vollständig zu sein – die große
Reichweite seiner Interessen. Von der Familienpolitik und Erziehung
über die soziale Frage, die Todesstrafe, die Religion bis hin zum
Krieg und der „Kolonialfrage“ entwickelte Robespierre zu allen
Themen eine Meinung. Oft genug war diese Meinung nicht überbordend
originell und ging kaum über den Standard seiner Zeit und seines
Milieus hinaus. Insbesondere die „weltmännische“ Liberalität
eines Condorcet geht dem Provinzschwärmer Robespierre ab. In manchen
Fällen jedoch zeichnen sich die Ansichten Robespierres durch
faszinierende Kniffe, unerwartete Blickwinkel oder eine überraschende
Modernität aus (mit der hinwieder der Liberale Condorcet nicht
aufwarten kann).
Besonders
spannend fand ich in dieser Hinsicht die Beiträge über die
Todesstrafe (von Jean Bart), den Krieg (von Marc Belissa) und über
die soziale Frage (von Jean-Pierre Jessenne). In all diesen
Bereichen, mehr womöglich als den übrigen Diskussionsthemen der
Revolution (inklusive der Menschenrechte, tut mir leid, das sagen zu
müssen!) entschied sich faktisch Verlauf und Ausgehen der Revolution
und somit, auch wenn das etwas pathetisch klingt, die Geschichte
Europas.
Jean
Bart beginnt seine Ausführungen mit dem rhetorischen Widerspruch,
Robespierre zugleich als Abolitionisten der Todesstrafe, und
gleichzeitig auch als Apologeten der guillotinengestützen
Schreckensherrschaft zu betrachten. Tatsächlich war Robespierre
während der Constituante weder der einzige noch der einflussreichste
Gegner der Todesstrafe. In seinem discours gegen die Todesstrafe vom
30. Mai 1791 finden sich daher viele Gedanken und Beispiele berühmter
Zeitgenossen wieder (worauf der Redner durchaus die Stärke seiner
Argumentation stützt, von denen Bart vor allem den (nicht namentlich
referierten) Mailänder Philosophen Cesare Beccaria heraushebt).
Anderthalb
Jahre nach dieser Rede plädiert Robespierre für den Tod des
ehemaligen Königs. Seine Haltung gegen die Todesstrafe, betont er,
hat er indes nicht aufgegeben. Am 16. Januar 1793 geht er noch weiter
und erklärt, das Gefühl, das ihn dazu bewogen habe, für die
Abschaffung der Todesstrafe zu stimmen, sei dasselbe, das ihm nun
eingebe, in diesem Fall das Todesurteil auszusprechen. Die komplizierte Logik dahinter besteht sowohl für Robespierre als auch
für andere jakobinische Abolitionisten wie Le Peletier, aber auch
für Beccaria, darin, dass es sich um zwei verschiedene Fragen
handelt, die darum auch nicht, wie Condorcet es im Falle des
Prozesses gegen den König versucht hat, in einem Atemzug verhandelt
werden. Die Frage der Todesstrafe ist eine juristische: Ist es dem
positiven Recht gestattet, über Leben und Tod der dem Gesetz
Unterworfenen zu urteilen? Ist es der Gerichtbarkeit gestattet, eine
Strafe auszusprechen, die irreversibel oder, mehr generell, durch
besondere Strenge ausgezeichnet ist? Die Antwort ist ein klares
„Nein“. Die Frage der Verurteilung des Königs (Robespierre
distanziert sich in seiner Rede vom 3. Dezember 1792 sogar von der
Terminologie der „Verurteilung“ oder Rechtsprechung) oder der
„Verdächtigen“ der Schreckensherrschaft ist hingegen eine
politische Frage. Der revolutionäre Staat hat eben noch keine
Rechtsordnung, er befindet sich im Krieg gegen äußere wie innere
Feinde und kämpft um sein Überleben. So gesehen, ist die junge
Republik keineswegs stärker oder stabiler in ihrem Überleben, als
es ein potenzieller Feind ist, insbesondere ist sie nicht mächtiger
als es das Bild des Königtums ist, das Louis XVI repräsentiert. Im
Kampf um Leben und Tod geht es nicht um Rechtsprechung und Strafe,
zunächst nicht einmal um „Gerechtigkeit“, sondern um das „Gesetz
natürlicher Verteidigung“, das Robespierre 1791 dem Rechtsstaat
entgegen gestellt hatte: Töten, um nicht getötet zu werden.
In
der Einstellung Robespierres zu Militär und Krieg teilt Marc Belissa
nach den Epochen vor der Kriegserklärung Frankreichs an den König
von Ungarn und Böhmen im April 1792, von diesem Zeitpunkt bis zu
seinem Eintritt in die Regierungsverantwortung im Juli 1793, und in
sein letztes Lebensjahr. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund
macht diese Einteilung durchaus Sinn, äußert sich doch der
Tagespolitiker 1790 anders als 1792 und anders als im Winter 1794.
Dennoch, betont Belissa, bleiben die Ansichten Robespierres
außerordentlich konstant. Diese Konstanten im Denken Robespierres
sind ein hellsichtiges Misstrauen gegenüber einer Berufsarmee, dem
unbedingten Festhalten an den Zwecken und Zielen der Revolution und
die Ablehnung gegenüber Eroberungskriegen.
Seit
1790 fordert Robespierre vor der Nationalversammlung die Einrichtung
einer Volksarmee. Ein Heer ständig bewaffneter Soldaten, das einem
im Grunde unbewaffneten Volk gegenüber steht, argumentiert er, sei
immer ein Mittel der Unterdrückung der Regierung sowie ein Hort des
„Aristokratismus“, denn eine Armee, die der Herrschaft zur
Verfügung steht, beruht niemals auf demokratischen, sondern
autoritären Hierarchien. Was für das Verhältnis zwischen der
Nation und ihrer Armee gilt, soll auch für die Beziehungen zwischen
den Völkern gelten: nicht das Machtgefälle zwischen Eroberern und
Unterdrückten soll zwischen ihnen herrschen, sondern die
„Brüderlichkeit, die die Natur anempfohlen hat.“ (99, meine
Übersetzung)
In
der Diskussion um den Krieg, die Robespierre nicht als
Berufspolitiker verfolgt, denn er ist Ende 1791 und in der ersten
Hälfte 1792 kein Abgeordneter, nimmt dieser die Gelegenheit wahr,
sich umfassender zur „großen Frage des Völkerrechts“ zu äußern.
Gleichzeitig formuliert er eine Position zum Export der Französischen
Revolution, die, anders als es einige Kritiker behauptet haben, nicht
auf die französische Nation beschränkt bleiben soll. Bekannt ist
die Aussage Robespierres vor dem Jakobinerclub: „Niemand liebt
bewaffnete Missionare“, und tatsächlich kann seine Position
teilweise so wiedergegeben werden. Andererseits jedoch wird
Robespierre nicht müde, an die Interessen der Revolution zu
gemahnen: der Krieg sei die letzte Rettung des Königs, erinnert er
1791. Indem der Schauplatz der Politik vorsätzlich an die Grenzen
des Landes (und über die Grenzen hinaus) verlagert wird, drohen
sowohl die Errungenschaften als auch, wichtiger, die noch nicht
erreichten Ziele der Revolution aus dem Blick zu geraten. Wer die
Feinde der Revolution in Europa bekämpfen wolle, dürfe nicht den
Fehler begehen, die Feinde in Frankreich selber zu übersehen,
wiederholt er. Auch die „Befreiung“ Belgiens erfährt Kritik: in
seiner Zeitung „Le Défenseur de la Constitution“ ruft
Robespierre das belgische Volk „zur Solidarität angesichts ihrer
gemeinsamen Unterdrücker“ auf, „darunter die französischen
Generäle selber“. (103, meine Übersetzung) Wohlgemerkt,
Robespierre bezieht keine pazifistische Stellung, und auch keine der
Nichteinmischung: alle Völker, die den Freiheitskampf aufgenommen
haben, könnten sich auf die Solidarität Frankreichs verlassen.
1793
schlägt Robespierre vergebens vor, in die Verfassung desselben
Jahres eine Formulierung aufzunehmen, die die Solidarität der Völker
und ihre gegenseitige Unterstützung gegen jedwede Unterdrücker
festschreibt. Auch unterstützt er die Bemühungen Barères um
diplomatische Beziehungen zum Ausland. Was den Krieg betrifft, so
soll er so schnell als möglich gewonnen werden, um sich hernach der
innenpolitischen Konsolidierung zuzuwenden. Der „Krieg“ ist für
Robespierre allerdings noch immer derjenige gegen die
Konterrevolutionäre sowohl an den Grenzen als auch im Inland. In
diesem Sinne ist auch die Terreur und ihre Verschärfung im Laufe des
Jahres II zu verstehen. Noch immer lehnt Robespierre Eroberungspläne
der jungen Republik ab, und gerät mit dieser Einstellung in Konflikt
mit Kollegen wie Carnot und Prieur-de-la-Côte-D'Or. Wie ernsthaft
dieser Konflikt war, zeigt sich auch daran, dass Robespierre in
seiner Verteidigungsrede am 8. Thermidor deutlich dazu auffordert,
denn Krieg baldigst „zum Wohle unserer Prinzipien“ zu beenden,
anstatt „sterile Freiheitsbäume auf feindlichem Boden“ zu
pflanzen.
Angesichts
des Misstrauens Robespierre gegenüber dem Militarismus und seiner
Ablehnung militärischer Eroberungen gehört es zu den Ironien der
Geschichte, dass sein wohl erfolgreichtsre Protégé Napoleon
Bonaparte war...
Hatte
Robespierre eine geschlossene sozialpolitische Programmatik? Und was
waren ihre Fundamente und Grenzen?, fragt Jean-Pierre Jessenne.
Bereits während seiner Zeit als Anwalt und Akademiker hatte
Robespierre immer wieder die von Rousseau geprägte Position zu
vertreten, nach der materielle Ungleichheit zwischen den Menschen zur
Destabilisierung des Gemeinwesens nicht weniger beiträgt als
Unfreiheit. Über diese bibliographische Meinungsbildung hinaus,
argumentiert der Autor, hat auch die persönliche Erfahrung als
Anwalt armer Klienten gegen mächtige Institutionen (etwa der Abtei
von Anchin im Deteuf-Prozess) wesentlich dazu beigetragen, dass
Robespierre, anders als viele seiner Kollegen, bereits in der
Nationalversammlung kaum eine Gelegenheit ausließ, seine
Verteidigung der Menschenrechte auf ihrer Universalität und explizit
auf ihrer unbedingten Anwendung auf die männlichen Franzosen der
unteren Klassen aufzubauen. Dies geht allerdings über die
Verteidigung eines Prinzips hinaus; tatsächlich wiederholt
Robespierre im Laufe der Zeit oft, dass das oberste Ziel der
Revolution darin besteht, die Rechte des Volkes gegen die Usurpation
seiner Feinde, der „Reichen“ zu verteidigen. Aus dieser
simplifizierten Dychotomisierung, die im Übrigen mit einer
„Quasi-Sakralisierung“ (S. 150) des Volkes und Dämonisierung der
„Reichen“ einhergeht, folgt für die richtigen Revolutionäre der
Kampf gegen das Elend des Volkes. Im Namen der rechtlichen Gleichheit
darauf zu verzichten, die materielle Ungleichheit zwischen oberen und
unteren Klassen zu mildern, ist darum ebenso unrepublikanisch, wie
der Unterhalt der Ärmsten eine Pflicht der Republik ist.
Dennoch
bleibt Robespierre seltsam inkonsequent, wenn es darum geht, die
„Gleichheit der Reichtümer“ zu promovieren. Tatsächlich ist
stets von Ungleichheit und ihrer „Milderung“ die Rede, als sei
die Existenz von Ungleichheit grundsätzlich nicht diskutabel: die
Dichotomie zwischen „Volk“ und „Reichen“ ist offenbar zu
wichtig für die Konsolidierung der Republik, als dass Robespierre
auf sie verzichten könne. So bleibt seine Argumentation durchgehend
an der Oberfläche: eine Art Sozialhilfe, progressive Steuern,
staatliche Schulbildung. Keine Beschneidung des Privateigentums
(außer durch besagte Steuer), keine Einmischung in die
frühkapitalistische Arbeitsorganisation, keine Agrarreform.
Robespierre selber gibt zu, von finanziellen Fragen kaum Ahnung zu
haben und mischt sich darum kaum in die Umsetzung der von ihm
geforderten sozialen Maßnahmen ein. Und in seiner Rede über die
Grundversorgung verleiht er einem ordinären Glauben an die freie
Marktwirtschaft Ausdruck. Eine „Sozialpolitik des egalitären
Liberalismus“ nennt Jessenne daher Robespierres Einstellung.
Das
primäre Interesse Robespierres, den Erhalt der revolutionären
Regierung, trägt indes in den politischen Handlungen Robespierres,
gerade im Jahr II, stets den Sieg vor den sozialpolitischen
Erwägungen davon. Zweifellos hat Robespierre starke sozialpolitische
Überzeugungen, oftmals widersprüchlich, utopisch, nicht selten
dermaßen vormodern, dass sie uns nur mehr ein Kopfschütteln
entlocken. Dennoch, diese Überzeugungen lassen sich in verschiedenen
Reden Robespierres, etwa der zur Erziehung oder dem Entwurf einer
neuen Menschenrechtserklärung (beide 1793), nachvollziehen. Die
Notwendigkeit der staatserhaltenden Machtpolitik der Terreur, die
traditionell gerne, aber nicht ganz richtig, als „Kriegskommunismus“
bezeichnet wird, haben auch diese Überzeugung in den Hintergrund
treten lassen.
Was
bleibt nun nach der Lektüre des knapp 290 Seiten langen Bandes? Drei
Eindrücke herrschen vor: 1. Robespierre hat seinen Ruf als
„Generalist“ wohl verdient, besieht man die Vielzahl der Themen,
zu denen Robespierre nicht nur eine Meinung, sondern eine durchaus
reflektierte, vielschichtige Position vertrat. 2. In vielen Punkten
war diese Position durchaus typisch für seine Zeitenoss_innen, in
anderen Punkten offenbart Robespierre tatsächlich moderne Ansichten.
Manche seiner Überlegungen sind überaus widersprüchlich, andere
brechen vor dem logisch nächsten Schritt abrupt ab. Keine indes
wurde im Laufe der Revolution von Robespierre grundsätzlich in Frage
gestellt.1
3. Gleichwohl war Robespierre, wie seine Kollegen, bereit, seine
Überzeugungen vorübergehend hintenan zu stellen, um den Fortbestand
der Republik während der innen- und außenpolitischen Krisen zu
gewährleisten. War er bis 1792 unbestechlicher Ideologe der
Demokratie und der Menschenrechte, akzeptierte er danach,
insbesondere nach seiner unfreiwilligen Wahl in den
Wohlfahrtsausschuss, die Rolle des Machtpolitikers.
1 Es
gibt jedoch auch Interpretationen, nach denen Robespierre seine
ursprünglich abolitionistische Haltung zur Sklaverei abgemildert
habe. Vgl. Bernard Gainot, „Robespierre et la question coloniale“,
S. 79-94.
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